Selten hat ein Zwischenruf derart Geschichte gemacht. Bei einer Tagung im mexikanischen Cuernavaca im Jahre 2000 konnte sich der Mainzer Paul J. Crutzen, Nobelpreisträger für seine Arbeiten zum Ozonloch, nicht mehr an sich halten: „Hören Sie auf, das Wort Holozän zu benutzen. Wir sind nicht mehr im Holozän. Wir sind im … im … Anthropozän!” Erst verblüffendes Schweigen, dann in der Kaffeepause begann der Begriff zu fliegen, anfangs in Fachkreisen, dann bei einem breiten Publikum weltweit.
Was Crutzen damit meinte? Er hatte plötzlich eine Eingebung, dass die Erdgeschichte in eine neue Epoche eingetreten sei, ins Anthropozän. Die Menschheit sei nun eine geologische Kraft, vergleichbar mit Vulkanausbrüchen und Erdbeben. Denn menschliche Aktivität gestaltet die Erdoberfläche und die Erdatmosphäre grossräumig und dauerhaft. Das reiche von der globalen Klimaüberhitzung und ihren Folgen für Fauna und Flora über die Versiegelung von Böden und Störungen von Wasserkreisläufen, das rasante Schwinden der Artenvielfalt, die Anreicherung von Luft, Böden und Gewässern mit toxischen Substanzen bis hin zu einer rapide wachsenden Zahl von Menschen und Nutztieren. Man muss sich einmal vorstellen, was inzwischen die Forschung sagt: Das Gewicht der vom Menschen geschaffenen Masse, also die Summe aller Industrieanlagen, Häusern, Straßen, Schiffe, Geräte und Müllberge, erreicht in diesen Jahren das Gewicht der Biomasse auf der Erde, also die Summe der Wale, Nutztiere, Insekten, Pilze, Feldfrüchte, Bäume einschließlich der menschlichen Körpermasse!
Angesichts dieses Epochenbruchs entpuppt sich die gängige Rede von der Umweltkrise als reine Augenwischerei: Es dreht sich nicht um Umweltschutz, sondern um Lebensschutz, und dreht sich auch nicht um eine vorübergehende Krise, sondern um eine epochale Katastrophe. Es verlangt eine tiefgreifende Revision der gegenwärtigen Wirtschaft und darüber hinaus der expansiven Moderne insgesamt.
Das Gegenmittel zur expansiven Moderne heißt Suffizienz. Sie steht den technischen Errungenschaften der Moderne skeptisch gegenüber. Ihr zivilisatorisches Projekt besteht darin, die Ressourcen der Industriemoderne mit der Regenerationsfähigkeit der Biosphäre in Einklang zu bringen. Die Tugend der Genügsamkeit hat einen festen Platz von Aristoteles zu Konfuzius in den Weisheitstraditionen der Welt. Sie gilt es im Angesicht des Anthropozän wieder ausgraben. Dies ist umso mehr geboten, als die Strategie der Ressourceneffizienz ins Leere läuft, sobald die Einsparungen von der Gütermengen wieder aufgefressen werden. Effizienz heißt, die Dinge richtig zu machen, Suffizienz heißt, die richtigen Dinge tun. Denn in der expansiven Moderne dreht sich alles um das olympische Motto: um größere Geschwindigkeiten, um weitere Entfernungen, um wachsende Mengen an Gütern und Dienstleistungen. Gegen diesen Strom schwimmt die Suffizienz. Sie wird getragen von der sprichwörtlichen Erkenntnis, dass alles seinen Preis hat. So sind die technischen Meisterleistungen der Industriemoderne nur die eine Seite der Medaille, die andere heißt Ungleichheit und Naturzerstörung. Deshalb plädieren die Befürworter der Suffizienz dafür, mit dem Steigerungsimperativ des „Schneller, Weiter und Mehr“ zu brechen. In dieser Sinne hat die Kunst des Unterlassens Vorrang in der Politik, um die Regeneration des Leben in Natur und Gesellschaft ermöglichen.
Das Gegenmittel zur expansiven Moderne heißt Suffizienz. Gegen das immer „Schneller, Weiter und Mehr“ setzt sie die Kunst des Unterlassens und stellt die Frage: Was ist genug für alle und auf Dauer?
Dabei muss man sich von der populären Unterstellung lösen, die erneuerbaren Energien würden es schon richten, sie seien sogar unendlich verfügbar. Kein Zweifel, der Umstieg auf die Erneuerbaren ist unumgänglich, dennoch lässt sich die Frage nicht unterdrücken, wo und in welchem Umfang? Die Grenzen des Strombedarf müssen angesichts der Kosten für Material, Fläche und Landschaft diskutiert werden. Welcher Nutzen rechtfertigt die Unbill der Windturbinen und Solarzellen? Der Elektro-SUV, mit dem der gut situierter Städter herumfährt? Der Stromverbrauch für das Streaming von Filmen zuhause der Ex-Kinogänger? Oder: all die Containerschiffe aus China und Fernlastzüge auf den Autobahnen, angetrieben von grünem Wasserstoff? Allenthalben kehrt alte, zu oft verdrängte Frage wieder: Was ist genug? Was ist genug für alle und auf Dauer?
Ohnehin sollte niemand davon ausgehen, ein Wirtschaftsmodell, das seit fast 200 Jahren auf fossilen Energieträgern basiert, könnte mit erneuerbaren Energien unverändert weitergehen. Suffizienz wird künftig als technisches Designprinzip betrachtet werden. Autos könnten beispielsweise von ihren Konstruktionsprinzipien her auf mittlere Geschwindigkeiten ausgelegt werden. Was wäre gewesen, wenn etwa das Pariser Abkommen von 2015 die Verpflichtung der 20 Automobilhersteller der Welt enthalten hätte, innerhalb von zehn Jahren kein Auto mehr produzieren, das schneller als 120 km/h fährt? Das wäre ein gewaltiger Bonus gewesen, um das 1.5 Grad-Ziel doch noch zu erreichen. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein zu großer Schritt für den Kapitalismus. Stattdessen ist der Anteil von SUVs und Geländewagen an den Neuzulassungen seit 2015 kontinuierlich gestiegen, auf aktuell 29 Prozent in Europa. Groß, schwer, hochmotorisiert, SUVs sind Klimakiller, ein Elektro-SUV ist so widersinnig wie Butter mit einer Kreissäge zu schneiden. Während Verbrennungsmotoren hohe Geschwindigkeiten lange durchhalten können, müssen Elektroautos auf Reichweite achten. Sie sind daher ideale Fahrzeuge für mittlere Geschwindigkeiten.
Selbst ein hochwertiges Recycling würde den Ressourcenverbrauch bei ständig steigendem Konsum nicht absolut senken. Eine lebensdienliche Wirtschaft wird ohne einen Schub an Suffizienz nicht zu haben sein.
Suffizienz lässt sich geografisch verstehen, gerade in Zeiten des Anthropozän. Zum Beispiel: Wie kann man die Hälfte der Erde für die wildlebende Pflanzen und Tiere unter Schutz zu stellen? Das ist die entscheidende Frage für die Biodiversität an Land und im Meer. Wieviel Fläche ist genug für den Menschen? Ein heikles Thema, denn es berührt die Frage, ob es Grenzen gibt für den Bedarf an Wohnraum und für alle Arten von Büro-, Gewerbe- und Verkehrsflächen gibt. In Deutschland jedenfalls ist die Fläche für Siedlung und Verkehr von 1992 bis 2020 um rund 20 Prozent und die durchschnittliche Wohnfläche von rund von 35 auf 47 Quadratmeter angewachsen, fast die Hälfte der Gesamtfläche der Bundesrepublik ist versiegelt. Angesagt ist, mit der bestehenden Bebauung auszukommen, was zu Verteilungskonflikten zwischen Miet- und Luxuswohnungen, Gewerbe- und Grünflächen, Gemeinschaftsgärten und Leerständen aller Art führt. Wie aus einer beschränkter Fläche mehr zu machen wäre, bewegt schon heute die Geister der Architekten, Bürger und Behörden rund um die Idee der „Grüne Stadt“.
Auch in der Wirtschaft ist ein Geschäftsmodell des Weniger längst überfällig. Die Kreislaufwirtschaft, wenn sie denn kommt, ist nicht nur eine Frage des ökonomischen Kalküls, sondern auch eine Frage der Ehre: Mit Ausbeutern, egal ob von Ressourcen oder von Arbeiter arbeitet man nicht zusammen. Zum Beispiel die Textilindustrie. Europa importiert sage und schreibe 63 Prozent der Textilien und 70 Prozent der Modeartikel, vor allem aus Bangladesch, China und der Türkei. Während etwa die Baumwolle für ein T-Shirt aus Pakistan stammt, wird sie dann in der Türkei zu Garn gewebt, in Indien zu Stoff verarbeitet und in Bangladesch genäht, um schließlich auf dem europäischen Markt zu landen. Der übermäßige Verbrauch von Pestiziden in der Baumwollerzeugung, die Wasserverschmutzung durch das Färben der Stoffe und schlechten Arbeitsbedingungen der Näherinnen sind allzu bekannt. Selbst ein hochwertiges Recycling würde den Ressourcenverbrauch bei ständig steigendem Konsum nicht absolut senken. Ressourcen einzusparen ist ein richtiger Weg, aber man kommt um die Erkenntnis nicht herum: Das umweltfreundlichste Produkt ist jenes, das man nicht gekauft hat. Eine lebensdienliche Wirtschaft wird daher ohne einen Schub an Suffizienz nicht zu haben sein. Für den Kapitalismus steht eine Bewährungsprobe besonderer Art an: Nur wenn es ihm gelingt, Wertschöpfung bei abnehmenden Gütermengen zu betreiben, wird er das 21. Jahrhundert überleben.
„Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“
Mahatma Gandhi
Wer sich gesund ernährt, hat kein Interesse an übermäßigem Fleischkonsum. Es gibt verschiedene Gründe, auf eine massive Reduktion der Schlachtviehbestände zu drängen. Zum einen die Futtermittelimporte, die in Südamerika Biodiversität vernichten. Zum anderen die Tatsache, dass Tiere keine Dinge sind, die sich nach ökonomischer Logik produzieren lassen, sondern empfindungsfähige Lebewesen. So picken Hühner im Freiland nach Futter, bauen Schweine für ihre Ferkel Nester aus Buschwerk, pflegen Kühe besondere Freundschaftsbande zu ihren Artgenossen. All das ist in der Massentierhaltung kaum möglich. Tiere mögen nicht so intelligent sein wie Menschen, aber sie kennen Angst und Einsamkeit, Leid und Langeweile. Pflanzliche Ernährung ist auch ein Ausdruck von Suffizienz, nicht aus Angst vor einer Ressourcenkrise, sondern aus Verbundenheit mit anderen Lebewesen.
Darüber hinaus hat Suffizienz eine kosmopolitische Dimension. Da die expansive Moderne den ganzen Erdball umfasst, ist die Suche nach einem frugalen Wohlstand allseits auf der Tagesordnung. In der Debatte um das Anthropozän verschwindet die „Klassenfrage“ hinter dem Begriff der Menschheit, obwohl inzwischen klar ist, wer derzeit die Hauptverursacher des Anthropozän sind: die 10 Prozent der Hochverdiener in der Welt, die fast die Hälfte der CO2-Emissionen auf der Erde ausstoßen. Sie leben auf allen Kontinenten, zwei Drittel in den USA/Europa/Japan und ein Drittel in den verschiedenen Schwellenländern. Sie alle kommen nicht darum herum, das rechte Maß einüben. Um es mit einem berühmten Zitat von Gandhi zu sagen: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“.
Wolfgang Sachs ist ein renommierter Forscher und Autor, der sich intensiv mit der ökologischen Krise der Moderne auseinandersetzt. Er arbeitete lange für das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Zudem war er Aufsichtsratsvorsitzender von Greenpeace Deutschland und als Lead Author beim Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) von 1999 bis 2001 tätig. Sachs ist ein Vordenker der globalen Debatte um Suffizienz und Postwachstum. Bekannt wurde er 1993 durch den Aufsatz: Die vier E’s: Merkposten für einen maßvollen Wirtschaftsstil. In: Politische Ökologie. 11/33, 1993. Erstens Entschleunigung als das rechte Maß für die Zeit, zweitens Entflechtung als das rechte Maß für den Raum, drittens Entkommerzialisierung für den Wohlstand jenseits des Marktes und viertens Entrümpelung hin zu einer Politik des Weniger.
Sein Beitrag für tachinieren ist eine stark gekürzte Fassung aus dem zweiteiligen Artikel „Frugaler Wohlstand“, der in 11/22 und 12/22 in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ erschienen ist.