Verlorene Zeit – was wir wirklich zurückgewinnen können

Viele wollen im Alter nachzuholen, was sie in jungen Jahren versäumt haben: Zeit mit der Familie, Freundschaften, Hobbys. Doch neue Fenster öffnen sich erst, wenn wir lernen loszulassen.

Derzeit gehen viele Babyboomer in Rente. Eine Generation, die über Jahrzehnte hinweg enorme Leistungsbereitschaft zeigte und ihre Identität stark über Arbeit und Erfolg definierte. Sie waren so arbeitsfixiert, dass sie nun dem versäumten Familienleben nachtrauern. In einer Umfrage sagen 59 Prozent der Deutschen, sie hätten zu wenig Zeit für Familie und Freunde. Immer wieder äußern sich Führungskräfte in den Medien offen darüber, dass sie ihre Work-Life-Balance vernachlässigt haben. Ein Beispiel ist Thomas Rabe, der langjährige CEO von Bertelsmann, der seinen Rückzug damit begründete, endlich mehr Zeit für Familie und persönliche Interessen haben zu wollen. Er wolle endlich wieder zur Gitarre greifen, die so lang bei ihm zuhause rumstand. Viele machen sich To-do-Listen für den Ruhestand. Ähnlich äußert sich Martin Daum von Daimler Truck, der offen über Fehlentscheidungen und verpasste Chancen spricht – ein Eingeständnis, dass manche Wege nicht mehr korrigierbar sind. Doch stellt sich die Frage, ob man nach Jahrzehnten an der Spitze eines Konzerns tatsächlich alles nachholen kann, was man zuvor versäumt hat. Da gilt natürlich auch für jeden anderen. Ob Verkäuferin oder LKW Fahrer: Der Versuch, ein versäumtes Leben im Nachhinein zu rekonstruieren, wird scheitern.

Klar, wer mit zwanzig das Gitarrespielen aufgibt, wird mit sechzig kein Virtuose mehr. Muss ja auch nicht sein, man kann ja trotzdem Spaß haben. Aber die Band, die man damals nicht gründete, die wird man mit sechzig vielleicht noch schwerer zusammenstellen können. Und Blumen und Plüschtiere begeisterter Mädchen werden sicherlich nicht mehr auf die Bühne fliegen. Man wird also seine Ambitionen anpassen müssen. Wer seine Jugend und die prägenden Lebensjahrzehnte fast vollständig der Karriere widmet, kann in späteren Jahren nicht einfach Familie, Freundschaften oder kreative Leidenschaften nachholen. Das Leben kennt Phasen, und manche Möglichkeiten sind an diese Phasen gebunden. Beziehungen brauchen Zeit – gemeinsame Entwicklung, gemeinsame Geschichte. Kinder, die längst erwachsen sind, erwarten keinen „neuen Vater“, der plötzlich kicken gehen will oder ins Taylor Swift Konzert. Freundschaften, die nie entstanden sind, lassen sich im Alter weniger selbstverständlich knüpfen. Vieles, was wir im Rückblick vermeintlich nachholen wollen, ist an die Lebensumstände gebunden, unter denen es ursprünglich Sinn gemacht hätte.

Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment

Hinzu kommt der für die Boomer typische Beschleunigungs-Effekt: Viele, die im Alter versuchen, Versäumtes nachzuholen, geraten dabei wieder in dieselbe Hektik, denselben inneren Beschleunigungsdruck, der ihr Berufsleben geprägt hat. Sie hetzen von Yogakurs zu Sprachreise, von Ehrenamt zu neuen Projekten, getrieben von einer alten inneren Stimme, die sagt: „Du musst etwas leisten, sogar jetzt.“ Das Nachholen wird dann zur Verlängerung jener Getriebenheit, die sie eigentlich hinter sich lassen wollten. Die alte Logik des „Immer mehr“ tarnt sich als Selbstfürsorge, bleibt aber oft dieselbe Beschleunigungslogik, nur in anderem Gewand. Es ist die Tragik mancher Workaholics, dass sie selbst das Entspannen zu einer Aufgabe machen, die sie effizient bewältigen wollen.

Statt auf Leistung und Quantität, sollten wir auf unsere Bedürfnisse und Motive hören Motivationen sind nicht stabil, sondern abhängig von der Lebensphase. Ein Motiv, das in jungen Jahren dominiert, kann im Alter verblassen, während andere Antriebe wachsen. Bei alten Rockstars hat man den Eindruck, dass sie es ihnen auch im Alter immer noch Spaß macht, aber dass sie es langsamer angehen und dankbar sind, dass die Fans noch kommen und die alten Songs hören wollen. Sie erwarten gar kein Feuerwerk an neuen Stilrichtungen, im Gegenteil, das würde irritieren. Es sind Nostalgieveranstaltungen und die haben auch ihre Berechtigung und machen Freude. Aber sie sind auch ein Ausklang der Karriere und wer die versäumt hat, muss wissen, dass es kam möglich sein wird, sie mit 60 erst noch zu beginnen. Bei Fußballern ist mit 30 schon häufig Schluß, bei Schauspielern und Musikstars auch. Wer jedoch versucht, alte Triebkräfte künstlich zu reaktivieren – etwa Perfektionismus oder Leistungsorientierung –, läuft Gefahr, vergangene Muster zu reproduzieren, obwohl sie dem heutigen Selbst gar nicht mehr entsprechen.

Ganesha steht für Neuanfang
Der indische Gott Ganesha steht für Neuanfang

Die nostalgische Vorstellung, dass uns das Nachholen früherer Wünsche im Alter ebenso befriedigen wird wie einst, ist häufig eine Illusion. Loslassen bedeutet auch zu erkennen, dass sich unsere Motive verändert haben und dass das Begehren, das wir erinnern, nicht mehr das Begehren ist, das wir empfinden. Mein Vater war als junger Mann ein begeisterter Motorradfahrer. Seine Yamaha XT 500 machte ihn frei, stark und attraktiv. Er liebte es. Dann kam die Karriere und mit 55 stand er vor dem Harley Davidson Laden und streichelte eine Fat Boy. Auch auf die Fortsetzung der guten alten Yamaha XT setzte er sich, das war eine Ténéré 700. Die hatte aber nichts mehr von der ursprünglichen Leichtigkeit. Sie war doppelt so schwer und hatte doppelt soviel PS. Der XT Geist war verflogen wie die Jugend aus Papas Knochen. Das musste er sich bei seinem Rendezvous mit seiner Motorrad-Vergangenheit eingestehen. Er gab auch zu, dass er Angst hatte, ein Gefühl, das er als 20jähriger Biker nicht kannte, obwohl er einige Male unfreiwillig absteigen musste. Die Motivation hatte sich bei ihm verschoben, das adrenalinsteigernde Risiko war jetzt nicht mehr so großgeschrieben wie damals.

Diese Erfahrung gilt nicht nur fürs Motorradfahren: Loslassen bedeutet nicht nur, sich von äußeren Möglichkeiten zu verabschieden, sondern auch zu erkennen, dass manche Wünsche nur im Rückblick attraktiv wirken, während sie im gegenwärtigen Selbst gar nicht mehr die gleiche innere Resonanz haben. Der indische Gott Ganescha steht für den Neuanfang, für die Kraft, mit dem Alten, auch alten Motiven abzuschließen und sich einem neuen Ziel zuzuwenden.

Diese Einsichten sind uralt: „Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment,“ sagte schon Laotse. Er erinnert daran, dass unsere Wirklichkeit nicht aus den imaginären Alternativen eines retrospektiven Lebens besteht, sondern aus dem, was hier und jetzt möglich ist. Auch Aristoteles kann als Warnung vor dem Aufschub gelesen werden. Seine Tugend der „Mesotes“, der Mitte, hört sich spießig an, ist aber eine Haltung des Maßes, die im fortlaufenden Leben eingeübt werden muss. Balance entsteht nicht am Ende des Weges, sondern im Gehen selbst. Wer sie immer wieder vertagt, verpasst sie zwangsläufig. Wer Familie, Freunde, aber auch Gelegenheiten verpasst hat, wird das nicht mehr ganz kompensieren können.

Auch Nietzsche kritisierte das rückwärtsgewandte, „nachträgliche“ Leben, den Versuch, durch späte Ersatzhandlungen etwas wiederherzustellen, dessen Lebendigkeit in der ursprünglichen Zeit lag. Für ihn war das Leben ein schöpferischer Prozess, kein Archiv, das man später erneut ordnen oder ergänzen könnte. Der Mensch, so Nietzsche, soll sein Leben nicht ex post rechtfertigen, sondern aktiv gestalten: nicht im Schatten des Versäumten, sondern im Licht des Möglichen.

Was folgt daraus für jene, die mit sechzig oder siebzig erkennen, dass sie vieles versäumt haben? Sicher nicht die krampfhafte Bemühung, das Unmögliche nachzuholen. Sinnvoller ist eine Haltung, die Vergangenes anerkennt und zugleich die Gegenwart ernst nimmt. Akzeptanz bedeutet dabei nicht Resignation, sondern Klarheit: Das, was versäumt wurde, gehört zur eigenen Biografie und kann nicht nachträglich geheilt werden. Gestaltung heißt, in kleinen, realistischen Schritten zu leben, statt große verlorene Räume füllen zu wollen. Beginnen Sie ein neues Hobby, das zur Ihrem heutigen Selbst passt. Suchen Sie sich neue Freundschaften pflegen, nehme sie Kontakt auf zu denen Kindern, spielen sie mit den Enkeln und genießen Sie eine neue Rolle der Großeltern. Auch das kann sehr erfüllend sein. Verbringen Sie die Zeit mit den Menschen, die jetzt da sind. Loslassen bedeutet, sich nicht vom Phantom vergangener Alternativen treiben zu lassen. Laotse erinnert uns daran, dass Stille eine Quelle großer Kraft ist: Nicht das Nachholen bringt Frieden, sondern das Loslassen.

Wer auf das Leben zurückblickt, erkennt irgendwann, dass es nicht darum geht, die gelebten Wege zu würdigen und aus dem, was jetzt möglich ist, ein stimmiges Ganzes zu formen. Dankbarkeit, nicht rückwärtsgewandter Eifer, schafft innere Ruhe. Das Leben kennt kein Nachholen – aber es kennt die Kunst, im Heute anzukommen.

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