Wo bleibt die Muße?

Wenn wir in unserer Umgebung wieder genügend Orte vorfinden, die Muße und Besinnung zulassen, werden wir auch wieder mehr Zeit haben.

Wenn wir in unserer Umgebung wieder genügend Orte vorfinden, die Muße und Besinnung zulassen, werden wir auch wieder mehr Zeit haben.Ach, es ist noch so viel zu tun. Im Job warten unzählige Emails auf Antwort, im Fitnessstudio war man auch schon lange nicht mehr, wann waren wir eigentlich zuletzt im Kino? Ein Grund, warum wir keine Zeit mehr haben, liegt auch daran, dass wir der Muße keinen Raum mehr geben. Raum hier ganz wörtlich gemeint. Denn Muße braucht nicht nur Zeit, die wir uns nehmen müssen, sondern auch einen Ort.

Wo immer alte Kulturen nach Gegebenheiten suchten, in denen der Mensch aus dem Geschäftigen und Alltäglichen heraustreten konnte, gestalteten sie dafür eigene, abgegrenzte Räume: Tempel, Klöster, Andachtskapellen, Gärten, Parks, Museen, Bibliotheken, Bäder, Thermen, Landsitze und vieles mehr.

Auch der öffentliche Raum hatte mußegerechte Orte. Das konnte ein Platz sein, ein Park, ein Boulevard, die dazu gestaltet waren, dass der Mensch darin flaniert, dass er sich dort auch ein wenig verlieren kann. Allen diesen Orten ist gemeinsam, dass sie eine eigene Art der Aufmerksamkeit schaffen, die nicht auf zielgerichtete Erledigung aus ist, sondern die Sammlung ermöglicht. Dagegen werden die öffentlichen Orte heute nach absurden Kriterien gestaltet. Jüngstes Beispiel: Die Friedrichstrasse in Berlin, angekündigt als Flaniermeile, war sie tatsächlich eine Rennstrecke für E-Roller, Lastenfahrräder und Schnellradler, dekoriert mit vergammelten Holzbänken, auf denen Touristen ihrer Fastfood- und Pizzakartons abstellten und Obdachlose die Nacht verbrachten. Das Beispiel zeigt deutlich, dass die Stadtplanung selbst bei einem als Vorzeigeprojekt ausgewiesenen Flanier-Projekt nicht den Hauch einer Ahnung hat, wie sich Muße und Entspannung überhaupt herstellen lassen. Ein paar Holzbänke und eine autolose Strasse sollen reichen: Billiger und ideenloser geht es kaum. Die Probleme der Innenstädte rühren auch daher, dass sie einseitig kommerziell sind, dass uns in den Einkaufsmeilen von allen Seiten Rabatt-Angebote anschreien, keine Wand ohne Werbung bleibt, als gebe es nur eines: Verkauf und Umsatz. Rückzugsorte gibt es in den Städten kaum noch.

Das ist kein Zufall. Spätestens seit der Neuen Sachlichkeit drängt die Beschleunigungsarchitektur die mußefördernden Orte zurück und ist damit noch immer nicht fertig. Le Corbusier legte Stadtpläne vor, die Städte nach Zonen ordneten wie eine fordistische Fabrik, in der das Fließband regiert: Arbeit, Freizeit, Wohnen, autogerechter Verkehr. Muße war überflüssig, nicht leistungsgerecht, ineffizent. Privatsache.

Das Ergebnis sind standardisierte Städte. Alle Innenstädte haben Fußgängerzonen mit Stellplätzen, Raucherzonen, Zebrastreifen, Radwegen usw. Selbst die Parks sind in Zonen für Spaziergänger, Radfahrer und Hundebesitzer aufgeteilt. Während die Werbezonen in den Städten immer weiterwachsen, mit dem Time Square als unüberbietbarem Höhepunkt, sind die Orte der Muße nahezu verschwunden. Sie benötigen eine Abgrenzung, eine Schwelle, die zwischen Alltag und Muße, zwischen Lärm und Ruhe, zwischen Hektik und Entschleunigung scharf trennt. In der herrschenden Effizienzlogik von Multifunktionsräumen kann diese Trennung nicht gelingen, also werden die ehemaligen Mußeorte in Funktionszonen verwandelt oder eliminiert. Jede Stadt kennt den verzweifelten Kampf um einen alten Stadtpark, der einer luxuriösen Wohnanlage weichen musste. 

Jede Stadt kennt den verzweifelten Kampf um einen alten Stadtpark, der einer luxuriösen Wohnanlage weichen musste

Mußeorte brauchen eine gewisse Abgeschirmtheit, denn nur darin lässt sich der Geist sammeln. Eine ständige Erreichbarkeit, die einen jederzeit in Verpflichtungen zurückholt, lässt Kontemplation nicht zu. Überwachungskameras und Smartphones haben an Mußeorten nichts zu suchen. Die öffentlichen Räume sind aber voll davon. Nicht wir beobachten absichtslos das Geschehen und lassen die Gedanken vorbeiziehen, sondern wir werden beobachtet und jeder Schritt wird von Dutzenden GPS- oder WLAN-Sendern protokolliert. Zur Muße gehört die Dezentriertheit, ein nicht festgelegter Blick, die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, wie der Philosoph Günter Figal bemerkt. Sie ist das Gegenstück einer methodischen Lebensführung, in der jede Handlung klaren Intentionen gehorchen muss, wo Ziele definiert und am besten nach Checkliste abgearbeitet werden und deshalb auch einem strengen Zeitregime unterworfen sind.

Raum ist mehr als die Strecke von A nach B

Zeit ist Geld. Nach dieser Funktionalität haben wir auch unsere öffentlichen Räume gestaltet. Einkaufszentren und Supermärkte beschäftigen Architekten, die minutiös planen, wie der Konsument möglichst gewinnbringend durch die Gänge gelotst wird. Flughäfen und Bahnhöfe sind solche Leiträume, die gar nicht mehr einen Gedanken darauf verschwenden, dass der Mensch absichtslos verweilen können wollte, dass er nicht von Zielen und Absichten angetrieben unterwegs ist. Sie sollen den Bürger lenken: Über den Gang, die Zone oder den Flur geht es über Laufbänder und Rolltreppen zu Gateways und Shuttles. Dass sich die Gehgeschwindigkeit in allen westlichen Städten seit Jahrzehnten stetig erhöht, hat nicht nur mit der Geschäftigkeit zu tun, die wir in die Straßen tragen, sondern auch mit dem öffentlichen Raum, der die Ruhe verdrängt. 

Der wahre Reisende hat keinen festgelegten Weg, noch will er an ein Ziel, schreibt Lao-Tse im Tao-Te-King. Das ist lange her, gibt aber eine leise Ahnung davon, dass der Mensch den Raum nicht nur als Strecke von A nach B verstehen muss. Ein wenig lebt die mußebestimmte Auffassung noch im Salonwagen. El Tren – Al Andalus oder in Südafrika Rovos Rail „Pride of Africa“ sind dafür Beispiele, freilich sind das Luxuszüge, die daran erinnern, was möglich wäre und die Frage aufwerfen, warum wir nach vielen Jahrzehnten der Produktivitätssteigerung nicht in der Lage sind, diese Art des Reisens für die breite Bevölkerung anzubieten. Wer immer mit einer solchen Haltung einen ICE betritt, wird enttäuscht sein. Die Wagons sind mobile Büros geworden, erobert von Laptops und lauten Handygesprächen, die man gezwungen ist, mitzuhören. Lesen oder unerwarteten Gedanken ihren Raum zu geben, ist in dieser Umgebung schwierig geworden. 

Muße ist auf Mußeorte angewiesen und wenn diese verschwinden, dann verschwindet auch sie. Wir müssen uns diese Mußeräume zurückerobern und neue schaffen. Dann wird auch die größere Verfügbarkeit der Zeit wieder in unserem Leben zurücktreten. Wenn wir in unserer Umgebung wieder genügend Orte vorfinden, die Muße und Besinnung zulassen, werden wir auch wieder Zeit haben. Die Moderne sieht die Welt als eine Uhr und die Menschen sind darin kleine Rädchen, die auf ihren Takt hören. Wenn wir die Welt aber als Raum begreifen, dann haben wir darin einen Ort, wo wir uns aufhalten, wo wir hingehören und wo wir funktionieren können, aber nicht müssen.