Schach wird schneller

Schach ist das „königliche Spiel“ und erfordert Zeit, denn die Spieler müssen über ihre Strategie nachdenken. Derzeit boomt Schach – leider vor allem die Speed Varianten.

Schach ist das „königliche Spiel“ und erfordert Zeit, denn die Spieler müssen über ihre Strategie nachdenken. Derzeit boomt Schach – leider vor allem die Speed Varianten.

Spiele spielen wir, um uns zu unterhalten, sie versetzen uns in Spannung, wir wollen gewinnen, wir genießen die Zeit mit Freunden oder in der Familie. Schach ist das beliebteste Brettspiel, und es erlebt derzeit einen außergewöhnlichen Boom. Auf der größten Schachplattform chess.com knicken die Server ein, weil sich so viele anmelden. Allein im Januar wurden dort rekordverdächtige zirka 900 Millionen Partien gespielt. Schach hat den Sprung aus den Kaffeehäusern und Vereinsheimen, wo überwiegend ältere Herren über den Schachfiguren brüten, ins Internet geschafft. Es sind vor allem junge Leute, die sich auf den online-Plattformen anmelden. Statt Counter-Strike oder Minecraft ist jetzt Schachspielen angesagt. Keine schlechte Nachricht.

Die Gründe für die neue Schachbegeisterung sind vielfältig. Einer ist sicherlich die Netflix-Serie „The Queen’s Gambit“, das eine junge Frau zeigt, die sich in diesem Spiel der Superhirne durchsetzt. Ein anderer Grund ist eine Begleitfolge der Lockdowns. Die Jugendlichen hatten zuhause Langeweile, also wandten sie sich dem Schach zu, bevorzugt natürlich im Internet. Dank Streaming ist Schach schnell geworden. In der Blitz-Variante haben die Kontrahenten jeweils über fünf Minuten Bedenkzeit pro Spieler und Partie. Beim Bullet ist es nur eine Minute. Da ist es wichtiger, wie schnell einer mit der Computermaus umgeht, als ob er Spielvarianten beherrscht. Gamer-Qualitäten sind entscheidender als Denker-Qualitäte

Das klassische Brett-Schach ist zwar immer noch beliebt, aber es verliert gegen das Streaming. Die Jugend zieht es dorthin, wo sich schnell viel ereignet. Die Bereitschaft, bis zu 15 Minuten zu warten – so viel Zeit steht bei Brettpartien gewöhnlich pro Zug zur Verfügung – bis endlich eine Figur bewegt wird, hat deutlich abgenommen. Warten war auch schon früher langweilig, aber im Streaming-Zeitalter hat sich die Aufmerksamkeitsspanne dermaßen verkürzt, dass Action geboten ist, also Bullet. Nur eine Minute pro Partie! Es ist ein bisschen wie Porno-Schach: Kein Vorspiel und schnell zum Ende kommen.


Der Siegeszug des Blitz-Schach scheint ein Spiegelbild unserer Aufmerksamkeitsökonomie zu sein. Sie ist Impulsgetrieben, besonders das online Marketing zielt darauf ab, unsere Impulse zu aktivieren und Entscheidungen zu unterdrücken. Wir sollen den Shop oder den Supermarkt mit mehr Waren verlassen, als wir vorhatten einzukaufen. Diese langjährige Konditionierung hat Folgen: Eine Impuls-orientierte User-Gemeinde wird unruhig, wenn Reize ausbleiben, sie kann nicht warten, sie muss scrollen, sie braucht Belohnung. Aufs Schach übertragen ist Blitzschach die passende, zeitgemäße Antwort. Klassisches Schach ist demgegenüber a la longue chancenlos, es dauert einfach zu lange, es passiert zu wenig.

Ganz so wird es vielleicht nicht kommen. Wissenschaftler um Anthony Strittmatter von der Universität St. Gallen fanden in einer umfangreichen Analyse von mehr als 24.000 Schachpartien zwischen 1890 und 2014 heraus, dass „wir heute besser Schach spielen als von 125 Jahren“. Der Anteil der optimalen Schachzüge hat demnach zugenommen. Die Analyse bezieht sich natürlich auf klassisches Brettschach. Dennoch kann sie zunächst einmal die kulturpessimistische Angst beruhigen, dass Schach geistig durch die Speed Varianten verarmt. Ob das unterm Strich stimmt, ist allerdings offen, denn die Strittmatter-These vom besseren Schachspiel stimmt mit dem sogenannten Flynn-Effekt überein. Danach wurden die Intelligenzwerte seit Beginn des 20. Jahrhunderts kontinuierlich besser. Dumm nur, dass der Flynn-Effekt seit 2000 nicht mehr wirkt. Schuld ist die Digitalisierung, die Dauerablenkung durch das Internet. Die derzeit anerkannteste Begründung für den Rückgang der Intelligenz ist der Einfluss des Aufmerksamkeitszerstörers Internet.

Blitz-Schach ist die Antwort auf die Impuls-gesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie unserer Zeit. Schach ist seit Jahrhunderten das strategische Spiel schlechthin. Es zählt zu den großen Stärken des Schachs, den Gegner auf dem Schlachtfeld durch logisch zwingende Schlüsse zur unausweichlichen Kapitulation zu zwingen und ihm dabei mehrere Züge voraus zu sein, bis er „Matt“ ist. Dieses typische „mehrere Schritte voraus denken“ geht im Blitzschach verloren. Spiegelbildlich auf die Kultur übertragen würde das bedeuten, dass der Westen sein strategisches Denken verliert. Der lange Atem geht ihm aus, er wird kurzatmig. Das Problem des Kurzfristdenkens zeigt sich bereits an vielen Stellen: Das Topmanagement von Großkonzernen ist fixiert auf die Optimierung von Quartalsergebnissen. Lieferketten werden offshore ausgelagert ohne langfristige Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Die Energiewende ist von Anfang an blind gegenüber geopolitischen Verschiebungen. Die Finanzmärkte zeigen schon lange ein nervöses Herdenverhalten, wo sich jeder vor der Panik des anderen fürchtet.

Problem des Kurzfristdenkens zeigt sich bereits an vielen Stellen: Das Topmanagement von Großkonzernen ist fixiert auf die Optimierung von Quartalsergebnissen. Lieferketten werden offshore ausgelagert ohne langfristige Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Die Energiewende ist von Anfang an blind gegenüber geopolitischen Verschiebungen. Die Finanzmärkte zeigen schon lange ein nervöses Herdenverhalten, wo sich jeder vor der Panik des anderen fürchtet.

China hat Go als Pendant zum Schach. Beim Go ist das Brett zunächst leer, die Steine kommen nacheinander ins Spiel, der Konflikt entwickelt sich. Go kennt kein Matt, der Sieger dominiert zwar das Brett aber der Verlierer verschwindet nicht, am Ende einigen sich die Spieler aufzuhören. Schach ist eine Schlacht, Go ist eine Abfolge von Schlachten. Insofern ist Go das Strategiespiel schlechthin. Staaten verlieren gewöhnlich Kriege aber sie verschwinden nicht. Im Go werden entscheidende Punkte auf dem Brett besetzt und die Steine des Gegners umzingelt. Ziel ist, den Spielraum des Kontrahenten so weit es geht zu verkleinern und den eigenen zu vergrößern. Egal wie lange das Spiel dauert, es wird eine Hegemonie angestrebt, aus der es für den Verlierer langfristig kein Entrinnen gibt. Wenn der Westen seine Fähigkeit verliert langfristig zu denken, weil er auf Impulse reagiert, statt das große „Chessboard“ im Auge zu behalten, wird er sich in der auf Vorherrschaft ausgelegten Umzingelungsstrategie des chinesischen Go verheddern.

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