Johann Wolfgang von Goethe

Als einer der ersten fürchtete Goethe die „wie vom Teufel gerittene“ Beschleunigung aller Lebensverhältnisse in der Globalisierung. Er setzte auf die Natur, auf Entschleunigung und auf die Wiederbelebung der vita contemplativa als Gegenkräfte.

Goethe hat es der Nachwelt überlassen, den „Faust“ als die Tragödie der Mobilmachung zu deuten. Eine Mobilmachung, die im Zeichen einer möglichen Klimakatastrophe den Blick frei gibt auf den abgründigen, bislang kaum bemerkten Quellgrund des Goethe’schen Verständnisses des „Veloziferischen“ – Goethes Neubildung aus „Velocitas“ (lat. „Eile“) und „luziferisch“ (teuflisch). Denn was Goethe mit diesem Begriff 1825 in seinem (nie abgesandten) Schreiben an seinen Großneffen Nicolovius in Berlin erhellt, ist durchaus bereits das Kainsmal der Moderne: Die irreversible Entfesselung „einer von Weltteil zu Weltteil springenden“ Mobilität in allen Lebensbereichen, die Kafka später als „rasenden Stillstand“ bezeichnen wird.

„Goethe kämpfte gegen die rasante Beschleunigung der Moderne, die er als ‚veloziferisch‘ bezeichnete – ein Begriff, der die velocitas (Eile) mit dem Luziferischen verknüpft. Als Gegenrezept empfahl er Verlangsamung und ruhige Kontemplation.“

Erst jetzt, auf den zweiten Blick, wird manifest, dass Goethe gleichzeitig intensiv und mit verstörender Aktualität über die heute erst klar hervortretenden Kollateralschäden der fossil-energetischen Ursachen dieses „rasenden Stillstands“ nachgedacht hat. Wird doch Goethe bereits 1790 Augenzeuge der industriellen Revolution als technische Ermöglichung des „Veloziferischen“. Und zwar in Gestalt der „Feuermaschine von Tarnowitz“, der ersten englischen Dampfmaschine im Dienst des preußischen Bergbaus. Was er dort gewahr wird, ist die Wiederkehr des Prometheus. Nun aber als neuer Titan – als Zeuge des pyromanischen Mißbrauchs seines Feuergeschenks. Im „Pandora“ Fragment von 1809 erkennt er bereits er das Kainsmal auf der Stirn der Moderne: Die Leidensgeschichte der Erde im ausschließlichen Dienst einer Zukunft des „Veloziferischen“: „Erde, sie steht so fest! / Wie sie sich quälen läßt! / Wie man sie scharrt und plackt! / Wie man sie ritzt und hackt! / Da soll’s heraus.“

Was da heraus soll, sind in der Tat jene gratis dort unten bereitliegenden fossilen Schätze, die nun für die „veloziferische“ Beschleunigung gehoben werden: bis heute und voraussichtlich für weitere 100 Jahre im Dienste der modernen Giganten der nachholenden Industriealisierung. Prometheus erkennt am Beispiel seiner als „Schmiede“ auftretenden Helfershelfer, die nächsten „veloziferischen“ Prozessschritte. Es sind die globalen Brennkammern der auf Dauer gestellten industriellen Revolution, nämlich die mephistophelische Beschleunigung der drei großen Aktionsfelder des Fortschritts der Moderne: die exponentielle Beschleunigung der Produktion und damit notwendigerweise auch des Konsums, der Transportmittel und der Kommunikation. Das heißt: Prometheus wird Zeuge, wie seine Schmiede Goethes Warnung vor den katastrophalen Folgen des „veloziferischen“ Zeitalters aus den „Zahmen Xenien“ einlösen: „Anbete du das Feuer hundert Jahr / Dann fall hinein, dich frißts mit Haut und Haar.“

Im „Faust“, in den „Wahlverwandtschaften“ und im „West-östlichen Divan“ hat Goethe Themen behandelt, die erstaunlich aktuell sind: die künstliche Erschaffung des Menschen, die Globalisierung und der unaufhaltsame technologische Fortschritt (das „Veloziferische“).

Hatte doch Goethes Faust bereits die Geduld verflucht. Die faustische Ungeduld wurde mit der Entdeckung scheinbar unbegrenzter energetischer Ressourcen nunmehr endgültig entgrenzt. Allerdings begleitet von einer fatalen Dialektik, deren wahre Dimension erst im 20. Jahrhundert im Bericht an den Club of Rome umrisshaft erkannt wird: Die exzessive Nutzung der fossilen Energie im Dienste des „Veloziferischen“ setzt CO2-Emissionen frei, die unseren Planeten in die Nähe jener Krankheit zu rücken scheinen, die Goethe schon 1774 im „Werther“ definiert hat: Dass nämlich in die Natur so eingegriffen wird, dass sie … „durch keine glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf wieder herzustellen fähig ist.“

Ein Eingreifen in die Natur, das für Goethe vor allem im Dienste des „Ultra“ steht, also einer immer maßloseren Steigerung der „Geschwindigkeit“. Warum? Weil in diesem ständigen „Ultra“ der Geschwindigkeit das von Benjamin Franklin formulierte Betriebsgeheimnis der ständigen Kapital-Akkumulation realisiert werden kann: „Time is money“. Geschwindigkeit also als ein vor allem monetär wirkmächtiger Marktvorteil. Allerdings auch hier wieder in einer fatalen Dialektik in Gestalt anthropologischer Kolateralschäden. Goethe bilanziert die fatalen Folgen 1825 in einem Schreiben an Zelter mit den Worten: „Alles ist jetzt ultra, alles übersteigert sich unaufhaltsam, im Denken wie im Tun … Niemand kennt sich mehr … Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert … und alle möglichen Einrichtungen der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“

„Alles ist jetzt ultra, alles übersteigert sich unaufhaltsam, im Denken wie im Tun … Man wird im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt … und alle möglichen Einrichtungen der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“

Goethe in einem Brief an Zelter

Goethe hat es nicht bei diesem Gerichtstag der Humanitas über das „Ultra“ des „Veloziferischen“ belassen. Er hat ihn metaphorisch in der Fausttragödie gespiegelt und zu Ende gedacht. Dort erscheint Mephisto als Magister Ludi aller Varianten des „Veloziferischen“: vom schnellen Degen über die schnelle Liebe bis zum schnellen Geld der Kaiserpfalz-Szene, in der die moderne Schuldenakrobatik der Geldschöpfung ohne Wertschöpfung vorweggenommen wird. Ein unaufhaltsamer Progress, der in der Aussicht auf eine mögliche Selbstzerstörung des Planeten und seiner Bewohner im Schlußakt der Tragödie gipfelt.

Goethe hat den zweiten Teil der Fausttragödie vorsorglich versiegelt – und damit auch die Gestalt des Lynkeus, der vom Turm aus den Blick auf das faustische Endspiel des „Veloziferischen“ richtet. Er ist es, der hier Gothes frühe Vision der Welt als „großes Hospital im Stadium der Krankheit zum Tode“ erblickt. Mit Entsetzen beschreibt er die Schleifspur der Verbrechen, die im Zeichen der mephistophelischen Beschleunigung und der faustischen Ungeduld begangen wurden. Eine Ungeduld, die vollständig im Zeichen einer Umwertung aller Werte steht: der Weltverbrauch mithilfe der „Feuermaschine“. Denn Faust besitzt sie bereits: „Meerab flossen Feuersgluten“. Sein Eingreifen in die Natur bereitet vor, was aus heutiger Sicht als Vorspiel zur Klimakatastrophe verstanden werden kann. Es ist Mephisto, der das Katastrophen-Tor aufstößt zu den modernen Rachefeldzügen der Elemente („Auf jede Art seid ihr verloren, die Elemente sind mit uns verschworen – auf eure Vernichtung läuft es hinaus“).

Der Türmer Lynkeus ist der Bote der Rettung. Frei von Erwartungen an die Welt können wir unser Glück im Betrachten der Natur finden: „So seh ich in allen / die ewige Zier“.

Andererseits – und dies schildert Lynkeus mit Entsetzen – greift Faust auch barbarisch ein in die Humanitas. Er degradiert nicht nur die Natur zum Rohstoff. Er transformiert auch den Menschen zum Humankapital und verursacht den Flammentod der beiden Garanten des alten Gedächtnisses „Philemon und Baucis“ (Welch ein gräuliches Entsetzen / Droht mir aus der finstern Welt! / Funkenblicke seh’ ich sprühen“). Das heißt Lynkeus prophezeit den Untergang der Vita contemplativa. Und damit Goethes eigenes geduldiges lebenslanges Ansehen der Gott-Natur im Sinne Spinozas. Sie wird zum Opfer einer totalen Mobilmachung der Welt, und der faustischen „Vita activissima“ steht der Untergang bevor.

Lynkeus bleibt allein zurück, bedroht von der „finsteren Welt“ – und dennoch steht er als Bote einer möglichen Rettung da, im Sinne eines alternativen, von Empathie geleiteten (Goetheschen) Naturverständnisses. Es sind die „glücklichen Augen“ des Lynkeus, die frei von Erwartungen an die Welt sind und ihr Glück bereits im Betrachten der Natur finden, die in diese Richtung weisen: „So seh ich in allen / die ewige Zier“.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) wird bis heute als der Inbegriff des deutschen Geistes betrachtet, und tatsächlich strahlt er mit seiner Vielschichtigkeit und Tiefe weit über die deutsche Kultur hinaus. Er war beides: Dichter und Denker. Sein literarisches Schaffen prägte die Weimarer Klassik und umfasst Lyrik, Dramen, Romane. Er war auch ein angesehener Diplomat, Kunsttheoretiker und Naturwissenschaftler, der eine eigene Farbenlehre entwickelte. Wäre der Begriff Weisheitsliteratur nicht Männern wie Lao Tse, Salomon oder Buddha vorbehalten, müsste man Goethe dazuzählen. Was er im „Faust“ über das Geld schreibt, oder im „West-östlichen Diwan“ über den Orient oder über die Liebe im „Werther“ ist außergewöhnlich geistreich.

Die Tatsache, dass Goethe zu den Klassikern der „Entschleunigung“ zählt, verleiht dieser Weltsicht eine bemerkenswerte intellektuelle Kraft. Dass das kaum bekannt ist, scheint angesichts des Siegeszugs der „veloziferischen“ Industrialisierung folgerichtig (und müssen wir ändern). Nietzsche bemerkte einst treffend: „Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen.“ Warum das so ist, könnte an den Deutschen selbst zu liegen, über die Goethe einst urteilte: „Vorzüglich im Einzelnen, miserabel im Ganzen“.

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