Göttrik Wewer: Mythen und Realitäten des digitalen Zeitalters

Die großen Versprechen der Digitalisierung haben sich nicht bewahrheitet. Die Probleme werden mehr, nicht weniger. Für die Beschleunigung aller Lebensverhältnisse zahlen wir einen hohen Preis.

Im Koalitionsvertrag verspricht die Ampel, den Ausbau der digitalen Infrastruktur zu beschleunigen, weil das den gesellschaftlichen Fortschritt voranbringt. Auch die Klimaziele seien damit leichter zu erreichen. Aber ist es nicht umgekehrt: Je umfassender die Digitalisierung, desto höher der Energie- und Ressourcenverbrauch und desto mehr soziale Probleme?

Göttrik Wewer hat 20 zentrale Versprechen der Digitalwirtschaft auf ihren Realitätsgehalt überprüft. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Nichts davon ist je eingetreten, man hat uns, auf gut Deutsch, angelogen: Am Anfang der digitalen Transformation wurde etwa behauptet, wenn man nur genügend Daten habe, lasse sich jedes soziale Problem lösen, doch tatsächlich schafft das Internet viele neue soziale Probleme. Es wurde der Glaube von der grenzenlosen Freiheit und Transparenz im Internet verbreitet, wo es tatsächlich die Überwachung erhöht und die Plattformen massiv Zensur ausüben. Da gibt es den Glauben, digitale Lernmittel würden die Bildung verbessern, wo sie in Wahrheit die sozialen Bildungsunterschiede verstärken. Oder der Glaube, Instagram und TikTok seien „soziale Medien“, die Menschen miteinander verbinden, wo sie tatsächlich Hetze und Unzufriedenheit verbreiten. Oder der Glaube, Wissenschaft sei künftig als Open Access frei verfügbar, dabei fördert das Netz Monopolstrukturen. Oder der Glaube, ausgerechnet die neue „Gigabitgesellschaft“ sei nachhaltiger, wo sich doch allein im Internet of Things die Anzahl der IoT Devices bis 2025 auf 75 Milliarden vervielfachen wird. Allein der Bitcoin verbraucht jährlich 115 Terrawattstunden Strom, mehr als ganz Italien. Die explodierenden Nutzerzahlen von Smartphones, Downloads, Videos, Apps usw. klingen jedenfalls nicht nach nachhaltiger Entwicklung. „Kein Selfie, kein Katzenvideo und keine Bastelanleitung scheint unwichtig genug, dass es irgendwann gelöscht werden könnte“, weshalb eben auch das Datenvolumen unaufhaltsam wächst. „Grünes Wachstum“ durch digitale Beschleunigung ist ein Märchen.

Die Digitalisierung löst keine Probleme, bei der Klimakrise agiert sie als Brandbeschleuniger. Eine ehrliche Debatte ist dringend nötig, meint Wewer: „Wer sich darauf verlässt, dass ihm Facebook schon die richtigen Nachrichten anzeigt, und Alexa fragt, wenn er etwas wissen möchte, oder meint, dass alles stimmt, was Wikipedia anbietet, dürfte nicht mündiger, sondern unmündiger werden.“ Insofern ist das Versprechen, die Digitalisierung voranzubringen, mehr eine gefährliche Drohung als ein beruhigendes Versprechen.

  • Autor: Göttrik Wewer
  • Verlag: Tectum
  • 605 Seiten
  • ISBN 978-3-8288-4668-5

Warum ist es was für Tachinieren?

„Die Digitalwirtschaft ist ein Brandbeschleuniger für viele politische, soziale und ökologische Probleme. Sie will unser Leben erklärtermaßen schneller machen, aber löst im Gegenzug keines ihrer Heilsversprechen ein.“

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