Das Ende der Mahlzeit

Der Pausengruß „Mahlzeit!“ stirbt aus. Rückläufig sind auch gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie. Wir haben immer weniger Zeit für echte Gemeinschaft. Es muss schnell gehen, ob es schmeckt, ob wir uns beim Essen als Menschen öffnen, ist unwichtig.

Immer seltener ist in deutschen Bürofluren der Mittagspausengruß „Mahlzeit!“ zu hören. Laut Deutsche Welle stirbt der Gruß, den sich Kollegen auf dem Weg zum Mittagessen gegenseitig zurufen, aus. Vor allem die Jüngeren benutzen ihn weniger. Haben sie keine Zeit mehr oder ist das Smartphone wichtiger? Es dürfte überwiegend am Homeoffice liegen, denn immer mehr Menschen sitzen heute allein zuhause vom Computer, das Brown Bag in der Hand.

Ursprünglich war „Mahlzeit!“ eine Segensformel, als „Gesegnete Mahlzeit!“ schon im Wörterbuch der Brüder Grimm notiert. Der Verlust des religiösen Dankes für das, was der Mensch von der Natur nimmt, war sicherlich eine Voraussetzung dafür, dass die Wegwerf- und Fastfood-Kultur ihren Siegeszug durch Europa antreten konnte. Aber den Rückgang des Grußes erklärt das sicherlich nicht.

Das allmähliche Verschwinden des Mahlzeit-Grußes reiht sich ein in den allgemeinen Rückgang regelmäßiger Mahlzeiten, der nicht nur das gemeinsame Mittagessen mit Arbeitskollegen betrifft, sondern auch Frühstück und Abendessen mit der Familie zuhause. Eine Folge davon sind Verfettung und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen, weil in den Familien immer weniger regelmäßig gegessen wird, und immer öfter jeder für sich allein und dann vor allem Fastfood. Die Eltern sind immer weniger in der Lage, gemeinsame Essensrituale durchzuhalten. Die Schattenseiten der Individualisierung machen sich hier bemerkbar. Mit der Entstrukturalisierung des Alltags kommt dann eben nicht die Freiheit, sondern die Wohlstandsverwahrlosung. Die Kids stecken sich bevorzugt Fettes und Süßes in den Mund. Die Süßwarenbranche boomt. Hinzu kommt die Sogwirkung der Medien: TV, Internet und Smartphone. Die Kinder driften schon beim Frühstück weg, daddeln die ganze Zeit am Tisch, da resignieren die Eltern. Gekocht werden muss dann auch nicht mehr, Aufwärmen in der Microwelle reicht. Die Familie hat keine kommunikativen Fixpunkte mehr, die Dinge laufen wie das Übergewicht förmlich aus dem Ruder. Die Folgen sind drastisch für die Gesundheit und die soziale Entwicklung.

Der Trend bei den Kindern ist aber nur ein Teilaspekt eines Gesamttrends der Amerikanisierung des Essverhaltens, Stichwort Brown Bag, Fastfood, Übergewicht. Statt die Kantine als einen wichtigen Ort der internen Kommunikation zu verstehen und ihn durch kulinarische Höhepunkte attraktiv zu machen, erleben wir nun den Rückgang des kollektiven Essrituals der „Mahlzeit“. Es muss schnell gehen, ob es schmeckt, ob wir uns beim Essen als Menschen öffnen und Gemeinsamkeiten entdecken, ist unwichtig. Europäische Esskultur geht verloren. Der Ernährungssoziologe Paul Rozin hat gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Claude Fischler die amerikanische und die französische Esskultur verglichen. Sie kamen zum Ergebnis, dass die Franzosen eine bessere und vernünftigere Einstellung zum Essen haben: Sie genießen es mehr und essen besser schmeckende Lebensmittel. Fragt man Franzosen und Amerikaner, ob sie bei Spiegeleiern eher ans Frühstück oder ans Cholesterin denken, antworten die Franzosen eher mit Frühstück, die Amerikaner mit Cholesterin. Die Franzosen lassen sich Zeit, genießen und sind dennoch – oder besser deshalb – auch viel schlanker als die Amerikaner. Die Amerikaner sehen nur die Nahrungsaufnahme und haben es immer eilig. In New Yorker Restaurants kann der Gast den Platz oft nur für maximal zwei Stunden reservieren, dann fliegt man raus. Da ist der Franzose erst mit der Vorspeise fertig. Es gibt ja so viel zu erzählen.


Wenn wir uns zum Kochen immer weniger Zeit nehmen, müssen wir uns nicht wundern, wenn, wie Studien zeigen, die individuelle Koch-Kompetenz abnimmt und zugleich das Angebot an Fertiggerichten rasant wächst. Die AOK berichtete kürzlich, dass die überwältigende Mehrheit der Eltern in der Klimakrise eine große Bedrohung für die Zukunft ihrer Kinder sehen, aber „nicht einmal ein Drittel der befragten Eltern halten nachhaltige Ernährung für bedeutend.“ Frische Lebensmittel aus der Region, gut zubereitet, schmecken nicht nur besser, sie sind auch gesünder und preiswerter. Man muss sich dafür aber die Zeit nehmen, die bei einem durchschnittlichen Medienkonsum pro Bürger von 410 min am Tag eigentlich überreichlich vorhanden ist.

Am Ende sind wir auch bei der „Mahlzeit“ bei einem Zeitproblem gelandet, bei der Beschleunigung durch Fastfood, weil angeblich alles heute schnell gehen muss und zur gemeinsamen Verabredung zur Mahlzeit keine Zeit bleibt, obwohl die Zeit doch eigentlich da ist. Und wir landen bei sozialen Institutionen, bei überforderten Familien und unintelligenten Unternehmen, die die Mahlzeit nicht als Chance interner Kommunikation betrachten. Bei der nächsten Mahlzeit könnten wir darüber reden, wie sich unser Essverhalten wieder entschleunigen läßt, wie es sozialer werden kann und genußreicher und angenehmer.

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