Wie tachinieren eigentlich die Japaner

Ein Schlüssel zum japanischen „guten Leben“ ist Ikigai. Das Selbstwertgefühl soll nicht vom Erfolg abhängig sein, sondern von der Freude an kleinen Dingen und vom Leben im Hier und Jetzt. Dazu muss man Loslassen können und in Harmonie mit der Welt leben.

Japaner und tachinieren, geht das überhaupt? Nennen wir sie nicht die „Preußen Asiens“? Angeblich schuften sie täglich von von früh bis spät für die Firma, kündigen nie, kommen vor lauter Arbeitsdisziplin kaum noch zum Heiraten. Schon das Buch von Pico Iyer „Japan für Anfänger“ läßt aber aufhorchen. Iyer setzte sich auf die Spuren von Luís Fróis, eines portugiesischen Jesuitenmissionars, der im 16. Jahrhundert Japan bereiste und sechshundertelf Punkte aufführte, warum Japan ein umgekehrtes Europa sei. Und ein umgekehrtes Europa ist Japan auch vielfach heute noch. Arbeitsethos und Perfektionismus sind anders als der westlich-protestantische. Somit tachinieren die Japaner auch anders als wir. Ein Schlüssel zum japanischen „guten Leben“ ist Ikigai.

Besonders wichtig ist, dass man für Ikigai nicht unbedingt im Berufsleben erfolgreich sein muss

Ikigai bedeutet „wofür es sich zu leben lohnt“ und hilft, Erfüllung, Zufriedenheit und Achtsamkeit im Leben zu finden. Ikigai ist in Japan weit verbreitet. Es bedeutet, sein Ziel mit Hingabe zu verfolgen und das, was man tut, um seiner selbst willen zu tun. Die Fünf Säulen des Ikigai sind: Klein anfangen, Loslassen, Harmonie und Nachhaltigkeit leben, die Freude an kleinen Dingen entdecken und im Hier und Jetzt zu leben. Ikigai ist ein Ort des Gleichgewichts, an dem sich Bedürfnisse, Wünsche, Ambitionen und Zufriedenheit treffen. Jeder Mensch muss herausfinden, was sein eigenes Ikigai ist, basierend auf seinen Fähigkeiten, Interessen, Wünschen und seiner Geschichte.

Eine gute Einführung ins Ikigai gibt Ken Mogi mit „Ikigai – Die japanische Lebenskunst“. Mogi ist Neurowissenschaftler und schreibt regelmäßig Bestseller. Wörtlich übersetzt bedeutet Ikigai „leben“ (iki) und „Sinn“ (gai)  und bezieht sich sowohl auf kleine Alltagsdinge als auch auf große Ziele. Das Ikigai eines Japaners kann darin bestehen, „die erfrischende Kühle der Luft am frühen Morgen zu spüren“ oder das Lächeln eines Gastes, dem man den besten Tunfisch serviert oder die großen Augen eines Kindes, das einer spannenden Geschichte zuhört. Ikigai lebt im Reich der kleinen Dinge. Ob mich ein Kind lobt oder der Kaiser von China, ist egal. Ob ich den Blick aufs Meer genieße oder einen Tisch gezimmert habe, ist gleichgültig.

Ikigai ist das, wofür es sich zu leben lohnt

„Besonders wichtig ist, dass man für Ikigai nicht unbedingt im Berufsleben erfolgreich sein muss“, schreibt Mogi. Ikigai kann jeder besitzen, es steht allen offen, man muss dafür nicht erfolgreich sein. Das ist schon mal ein grundlegender Unterschied zur calvinistisch geprägten Erfolgsreligion, die den Kern der westlich-amerikanischen Weltauffassung bildet. Da sind Geld und Erfolg der Beweis göttlicher Gnade. Milliardäre wie Warren Buffet oder Elon Musk – oder früher Steve Jobs, Howard Hughes oder John Rockefeller – werden wie Götter verehrt, zu denen man aufschaut oder pilgert. Loser sind trash, am schlimmsten „white trash“, denn sie haben nicht hart gearbeitet und an ihren Erfolg geglaubt. „Gott will, dass du reich bist“ ist das Credo sowohl der Managementgurus als auch des „Wohlstandsevangeliums“, wie es die Evangelikalen predigen und das bestens zum Konsumkapitalismus passt. Reichtum wird in Amerika generell als göttlicher Segen betrachtet und finanzieller Erfolg ist ein Zeichen von Gottes Gunst. Das ist die protestantische Wurzel der westlichen Geld- und Leistungsorientierung wie sie Max Weber schon vor 100 Jahren beschrieben hat und die sich seither – siehe den Erfolg der Pfingstlerbewegung und des positiven Denkens – weit verbreitet hat.

Ikigai lehrt dagegen, unser eigenes Selbstwertgefühl nicht vom Erfolg abhängig zu machen. Das macht nur unnötigen Druck, führt dazu, dass wir nie zufrieden sein können. Ikigai ist Lebensklugheit und wird, neben ausgewogener Ernährung und Gemeinschaft, auch für die Langlebigkeit der Japaner verantwortlich gemacht. Das Ikigai einer 102-jährigen Frau besteht etwa darin, ihre kleine Urururenkelin im Arm zu halten.

Um entspannter, glücklicher und gesünder zu leben, hilft Ikigai. Dazu muss man fünf Säulen beachten. Welche kleinen Dinge machen einem Freude? Lautet die wichtigste Frage. Die Antwort wird nicht darin bestehen, dass man die Welt retten will. Auch wer sich auf der Straße festklebt, rettet nicht die Welt, das ist Größenwahn und widerspricht dem bescheidenen Ansatz des Ikigai. Ob die Welt untergeht, steht ohnehin nicht in unserer Macht. Die westliche Größenwahn, dass es einen Erlöser braucht und Jünger, die die Welt vor der Apokalypse retten, ist dem Ikigai Denken völlig fremd.

Die Fünf Säulen des Ikigai:

  • Klein anfangen
  • Loslassen lernen
  • Harmonie und Nachhaltigkeit leben
  • Die Freude an kleinen Dingen entdecken
  • Im Hier und Jetzt sein

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