Cancelt Black Friday

Im Festkalender des Konsumkapitalismus ist der Black Friday ein hoher Feiertag. Wer schnell ist und clever, wird durch Schnäppchen gesegnet. Der Tachinierer umgeht dieses Konsumritual.

Das Konsumfest um den Black Friday steht vor der Tür. Händler und Kunden bereiten sich darauf vor. Das Fest ist dann gelungen, wenn es den Händlern neue Umsatzrekorde beschert und die Kunden ihre supergünstigen Einkäufe stolz auf Instagram vorzeigen. „Jetzt zuschlagen“ lautet die Losung dieser Woche, die einen kollektiven Kaufrausch einleitet, der weit über ein normales Shopping-Erlebnis hinausgeht. Der religiöse Charakter des Black Friday ist offensichtlich: Er hat Ähnlichkeit mit einem Fetisch. In traditionellen Kulturen ist ein Fetisch ein Objekt, dem eine übertriebene Verehrung zugeschrieben wird. Der Black Friday ist ebenfalls ein rituelles Ereignis, das nicht nur den Austausch von Waren, sondern auch den Austausch von Bedeutungen und Symbolen beinhaltet. Sein Fetischcharakter offenbart sich in der immensen Bedeutung, die ihm die Gesellschaft beimisst und dass sie ihn mit einer fast religiösen Hingabe begeht.

Ein religiöser Bezug steht schon an seinem Anfang: Es ist der Tag nach dem Thanksgiving-Fest, der nun zum Startschuss für den Sturm auf die Geschäfte und die Suche nach vermeintlichen Sonderangeboten geworden ist. Der Name „Black Friday“ stammt aus den 60er Jahren und beschreibt die chaotischen Menschenmassen in den Innenstädten. Dieser kollektive Konsumrausch ist ein soziales Ereignis. Jeder Kaufakt beglaubigt die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Konsumenten und zeigt, dass die hundertfachen Werbebotschaften, die täglich auf uns einströmen, nicht umsonst waren. Ich kaufe, also gehöre ich dazu. Der höhere Umsatz, den die Volkswirtschaft am Black Friday erzielt, ist wie ein Segen, den die Gemeinschaft der Konsumenten empfängt und den sie sich selbst spendet

An keinem anderen Tag steht der Konsum an sich so rein und unverstellt im Mittelpunkt. Ob wir die Produkte, die wir in den Sonderangeboten erwerben, überhaupt benötigen, ist völlig nebensächlich. Der Kaufakt allein zählt.

Der Black Friday, der Inbegriff von Mega-Shopping, ist ein wichtiger Tag auf der ewigen Customer Journey zum Konsumentenglück. An keinem anderen Tag steht der Konsum an sich so rein und unverstellt im Mittelpunkt. Ob wir die Produkte, die wir in den Sonderangeboten erwerben, überhaupt benötigen, ist völlig nebensächlich. Der Kaufakt allein zählt. Konsumpsychologen haben gezeigt, dass vieles einfach deshalb gekauft wird, weil es billig ist, weil man sich anstecken ließ von den unzähligen Rabatten. Wir kaufen, obwohl wir wissen, dass ein Gutteil der Produkte am Black Friday teurer ist als zuvor. Letztes Jahr waren es etwa ein Drittel der gefragten Angebote. Wir wissen, dass im Vorfeld oft die Preise erhöht werden, damit die Rabatte größer und attraktiver erscheinen. Vergeblich raten Verbraucherschützer, wir sollten uns unabhängig von solchen Aktionstagen überlegen, was wir eigentlich benötigen. Doch dieses Wissen bleibt folgenlos, wie die Umsatzrekorde zeigen. Wie der Christ, der in die Weihnachtsmesse geht, obwohl er weiß, dass es die unbefleckte Empfängnis ebenso wenig gegeben hat wie die Heiligen Drei Könige. Der Konsumkapitalismus ist ebenso wenig rational. Wie der Advent den Glauben festigt, so die gemeinsame Black Friday Woche das konsumerische Ich: Alle shoppen, alle suchen nach Schnäppchen, alle freuen sich besonders preiswert zuzuschlagen. Und dass der Nachbar gestern noch das Doppelte bezahlt hat, freut die individualisierte Käuferseele besonders.

Am Black Friday spielen wir die wesentlichen Glaubensinhalte der Aufmerksamkeitsökonomie musterhaft durch. Das zeigt sich im gesamten Setting des Festes. Es ist zunächst ein Steigerungsspiel: Es muss jedesmal mehr verkauft werden, denn das bedeutet mehr Profit. Gerade weil es nebensächlich ist, was wir kaufen, hört das Spiel nie auf. Im behavioristischen Menschenbild des Kapitalismus wird der Mensch als ein Wesen betrachtet, das darauf ausgerichtet ist, Lust zu erleben und Unlust zu vermeiden. Demnach stürzt uns das Dopamin gesteuerte Belohnungssystem in die hedonistische Tretmühle. Wir wollen immer mehr, und wir kommen nie an. Das Belohnungssystem bekommt nie genug, es ist nie zufrieden und es ist zugleich der Treibstoff, das Lebenselexier unserer Konsumkultur. Wir sind unersättlich und sollen es auch sein. Am Black Friday wird diese Ideologie zelebriert und symbolhaft ausagiert.

Der Heilsweg steht für alle offen und er endet nie, denn am nächsten Black Friday werden die Insignien der Konsumkultur wieder andere sein und wer sie nicht mit derselben Inbrunst erwirbt, verfehlt das Heil.

Die Aufmerksamkeitsökonomie ist der Endpunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung, in der alle sozialen und kulturellen Widerstände beseitigt wurden, die den Kaufakt einstmals behinderten. Der Zugriff auf das Belohnungssystem ist heute total: Werbung schon im Kinderzimmer, Aufhebung aller Rabattgesetze, 24 Stundeneinkauf, psychologische Feinsteuerung der Customer Journey, Bedürfnissteuerung über Medien und Popkultur sowie die Ausschaltung der Communio – all das trug dazu bei, dass sich die hedonistische Tretmühle immer weiter beschleunigt. Hektik und Stress sind bei der Schnäppchenjagd erwünscht, es gibt keinen free lunch, „nur noch zwei Stück verfügbar“ – da muss ich mich beeilen, shopping ist schwere Arbeit. Umgekehrt lehrt das Marketing-Lehrbuch dem Händler, auf dem Peak der Nachfrage schnell zu reagieren und den Slow Sellern mit noch mehr Rabatt neuen Schub zu geben. Kunden, die schnell sind und clever – zwei sehr wichtige Persönlichkeitsmerkmale im Turbokapitalismus – können eine Gucci Tasche oder eine Monclair Jacke um 70 Prozent günstiger kaufen und so ihren Status erhöhen. Denn die Gucci Tasche demonstriert, dass sie dazu gehören. Die letzten werden die ersten sein, wenn sie sich anstrengen, wenn sie vor dem „Best Deal“ nachts im Regen vor dem Flagshop campieren. Ora et labora. Der Heilsweg steht für alle offen und er endet nie, denn am nächsten Black Friday werden die Insignien der Konsumkultur wieder andere sein und wer sie nicht mit derselben Inbrunst erwirbt, verfehlt das Heil.

Auch die Ausweitung des Geldsystems auf alle Lebensbereiche hat den Konsum in den letzten Jahrzehnten enorm befeuert. Denn Geld hat einen sehr hohen Lustfaktor, und auch sein Verlust ist höchst emotional. Mit Bargeld ist der Kauf lustvoller als etwa beim Naturaltausch. Geld macht sinnlich. Noch besser ist die Kreditkarte. Menschen mit Kreditkarte geben immer 10 bis 15 Prozent mehr aus als Barzahler. Auch deshalb soll das Bargeld abgeschafft werden. Dann wird noch mehr gekauft.

Würde der Konsumkapitalismus ins Wanken geraten, würde die Gesellschaft tatsächlich nachhaltiger, gesünder, entschleunigter, empathischer werden – an den Umsatzzahlen des Black Friday würden wir es zuerst ablesen können.

Natürlich ist dieses behavioristische Menschenbild lächerlich. Aber am Black Friday scheint es seine absolute Gültigkeit zu beweisen. An diesem Tag sind wir angespannt wie Jäger auf der Treibjagd: Ich will das haben („last deal“, was natürlich gelogen ist). Wir kaufen den Pullover für 15 Euro statt für 25, obwohl wir ihn nie anziehen werden. Wir sind unzufrieden, weil wir etwas nicht noch billiger bekommen haben, aber die Arbeitskollegin schon. Die Black Friday Woche ist eine Zeit der Unzufriedenheit, unterbrochen von gelegentlichen Lusthöhepunkten, und eine Zeit der harten Konkurrenz. Wir sind aktiv: Wer am Black Friday faulenzt, frevelt gegen den Gott des Konsums, weil er nicht kauft und nach Schnäppchen jagt. Arbeitsethos sogar beim Konsum. Aktivität, Gier und Wettbewerbsdenken – die fundamentalen Werte des Kapitalismus werden hier beispielhaft zelebriert.

Das System ist so angelegt, dass die Konsumgier triumphieren muss, so wie die Klosterordnung so angelegt ist, dass sich die Mönche in spiritueller Zurückhaltung üben. Weder das eine noch das andere belegt, wie der Mensch wirklich ist. Denn auch Mönche haben ein Belohnungssystem, und auch die Black Friday Gesellschaft ist spirituell, wie ihr rituelles Begehen der Rabattwoche zeigt. Unsere Natur läßt sich nicht auf ein Belohnungssystem reduzieren. Hinter der Jagd nach Belohnung stehen viel größere Emotionen: Angst, Gier oder die Kompensation für Gefühle wie Einsamkeit, Sicherheit, Sexualität usw. Wer als Vater glaubt, die mangelnde Liebe dem Kind gegenüber durch Geschenke ausgleichen zu können, wird schnell die Grenzen des Belohnungssystems kennenlernen. Der Konsumkapitalismus reduziert Gefühle und Empathie und bietet nur schale Kompensationen an.

Ich konsumiere, also bin ich. Was aber, wenn wir, verführt durch Rabatte und Sonderangebote, überwiegend Dinge erwerben, von denen andere wollen, dass wir sie erwerben? Indem wir primär den Wünschen anderer entsprechen, erschaffen wir dann noch das befreite Ich oder verfehlen wir unser authentisches Selbst?

Das Versprechen der Konsumgesellschaft lautet, dass der Akt des Einkaufens zu einem verbesserten Lebensstandard führt und mich erfüllt. „Wer will“, schreibt Wolfgang Ullrich, „kann sein Leben als fugenlose Abfolge von Situationen führen, die vom Marketing konfektioniert werden.“ Die Selbsterschaffung durch Konsum ist wie eine Erlösung. Ich konsumiere, also bin ich. Die Konsumkultur hat sich längst vom reinen funktionalen Gebrauchswert der Waren gelöst und bietet Erlebnisdimensionen und Sinnstiftung an, die ich nicht mehr aktiv herstellen muss, sondern konsumieren kann: Der Kauf von Ökoprodukten macht mich moralisch, die Nutzung von ChartGPT macht mich progressiv usw. Die große Suggestion ist: Der Konsument wählt seine Identität frei und die Konsumprodukte unterstützen ihn bei dieser Selbsterschaffung. Was aber, wenn wir, verführt durch Rabatte, durch emotionale Botschaften und überhöhte Bedeutungszuschreibungen, überwiegend Dinge erwerben, von denen andere wollen, dass wir sie erwerben? Indem wir primär den Wünschen anderer (den Marketingstrategen mit ihrer ausgeklügelten Werbepsychologie) entsprechen, erschaffen wir dann noch das befreite Ich oder verfehlen wir es? Sogar innerhalb dieses stark reduzierten Menschenbildes (das sich in Konsumbildern erschöpft) ist die ausgerufene Freiheit der Selbsterschaffung durch Konsum doch äußerst fragil. Wird eine Konsumidentität unmodern, muss sie gewechselt werden. Wer kein Narr oder Muffel sein will, muss mit der Mode gehen, die Hypes mitsurfen und unterliegt dem ständigen Zwang des Wechsels. Wem am Ende die Mittel zum Einkauf fehlen, den benötigt die Gesellschaft nicht. Nicht Bildung, Wissen oder Herkunft bestimmen die soziale Position, sondern das Verbrauchsniveau. Beides, der Zwang zum Wechsel und ständige Drohung der Exklusion tragen zur massiven Unzufriedenheit in der Konsumgesellschat bei.

Aber schon in der calvinistischen Ursprungsversion des kapitalistischen Geistes, wie ihn Max Weber beschrieb, war das Heil nur den wenigsten gegeben. Der Großteil war verdammt und nur die Reichen und Frommen waren gerechtfertigt. An diesem Grundmuster hat die Aufmerksamkeitsökonomie wenig verändert. In der Digitalwirtschaft wird die Masse der Händler immer abhängiger von wenigen Plattformen wie Meta, Amazon oder Google, die immer größere Margen abkassieren. Ganz wie bei Calvin gibt es die Masse der Verdammten (Einzelhändler) und wenige Erwählte (Amazon), die man an ihrem Reichtum erkennt. Ideen wie der Green Deal oder die angebliche Ökologisierung des Konsums (50 Mio Elektroautos statt 50 Mio Verbrenner) behaupten, dass der Konsumkapitalismus nun nachhaltiger, gesünder, entschleunigter und empathischer wird. Das ist nirgends zu sehen und wir würden das Umdenken zuerst an den Umsatzzahlen des Black Friday ablesen – sie würden dauerhaft sinken.

Was macht ein Tachinierer am Black Friday? Bleibt er zuhause und schaltet den Laptop aus? Der Tachinierer ist kein Minimalist, aber ihn beeindruckt, dass sie einfach mal nachgezählt haben, wie viele Gegenstände ein Haushalt durchschnittlich besitzt – es sind zirka 10.000 (statistisches Bundesamt). Von einem Großteil der Dinge wissen wir gar nicht, dass sie irgendwo im Keller, auf dem Dachboden, in Schränken und Schubladen lagern. Es stimmt schon, dass weniger Konsum glücklicher macht, vor allem in einer Überflussgesellschaft. Also tut der Tachinierer etwas für sein Glück und trennt sich in der Black Friday Woche von so vielen Gegenständen wie möglich, schmeißt sie weg, verschenkt oder verhöckert sie auf Ebay. Das hat etwas Kynisches. Diogenes hätte sich nicht am Black Friday ins Gewimmel des Marktplatzes gestürzt, denn er wusste, dass die wahre Freiheit nicht in der Jagd nach flüchtigen Gütern liegt.

Der Tachinierer macht es wie Joseph von Eichendorff. Fernab von diesem Trubel findet er die wahren Schätze des Lebens. Die Lieder der Vögel und der Flüsterton des Windes in den Bäumen sind die Angebote, die er sucht, der Waldweg ist seine Einkaufsstraße der Stille.

Aber der Tachinierer ist kein Asket. Asketisch ist er nur stellenweise, wo es seine Freiheit und sein Wachsein stärkt. Manchmal fastet er, um jung zu bleiben. Auch die Black Friday Abstinenz ist so eine Form guter Askese. Denn der Tachinierer entsagt hier den lustvollen Schnäppchenkäufen, um autonom zu bleiben. Laut Oscar Wilde soll man zwar Verführungen nachgeben, denn man weiß nie, ob sie wiederkehren. Rabatte gibt es aber das ganze Jahr. Man versäumt nichts. Man ist nur nicht Teil des rituellen Hochamts der Konsumgesellschaft – so viel Außenseitertum muss sein. Wer sich auf Instagram durch die Black Friday Reels scrollt, läuft Gefahr, schwach zu werden oder zu verblöden. Der Tachinierer ist für diese angestrengte Schnäppchenjagd ohnehin zu faul. Er macht es wie Joseph von Eichendorff. Fernab von diesem Trubel findet er die wahren Schätze des Lebens. Die Lieder der Vögel und der Flüsterton des Windes in den Bäumen sind die Angebote, die er sucht, der Waldweg ist seine Einkaufsstraße der Stille. Weil der wahre Reichtum in der Schönheit der Natur liegt und nicht in der Hast und Gier des eiligen Kaufens, geht der Tachinierer am Black Friday im Wald spazieren, am besten mit Kindern, die den ganzen Konsumscheiß nicht brauchen, wenn sie Käfer, Eichhörnchen und Ameisen beobachten können.

Schließt sich also der Tachinierer von der Glaubensgemeinschaft der rituellen Schnäppchenjäger aus? In dieser Woche auf jeden Fall. Aber warum soll er die Skiausrüstung nicht vorausschauend am Ende der Saison im April kaufen, wenn sie billig ist und erst neun Monate später nutzen? Ein souveränes Konsumverhalten ist fürs Tachinieren unumgänglich. Weniger ist fast immer mehr. Besser ist immer klüger als billig.

Der Tachinierer schätzt auch regionale und saisonale Produkte. Denn hier bauen sich neue soziale Widerstände gegen die globale Vermarktung auf. Er schenkt zu Weihnachten nicht fast fashion, sondern am besten regional hergestellte Produkte, die länger halten und ignoriert Modehyps, soweit das überhaupt möglich ist. Er postet keine Outfits auf Instagram. Seine Anerkennung holt es sich bei Menschen seines Umfelds, das er pflegt, nicht bei anonymen Followern. Er isst nicht fast food, sondern slow food. So ist der Tachinierer Teil der Gesellschaft, ohne ihrer Konsum- und Aufmerksamkeitsreligion zu huldigen. Im Grunde ist das gar nicht so schwer.

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