Joseph von Eichendorff

Der Taugenichts steht spät auf, isst und trinkt gern, liebt die Natur, die Kunst und die Menschen. Er ruht in sich und schätzt die Muße und machte das Nichtstun in einer Welt des Arbeitszwangs zu einer Form der Zivilisationskritik.

Der Taugenichts ist die berühmteste Aussteiger-Figur der deutschen Literatur. Sie ist ein Höhepunkt der romantischen Opposition gegen die moderne Arbeitsdisziplinierung. Kaum ein Jugendlicher, der diesen Roman nicht liebt und dem er nicht aus der Seele spricht! Wem als jungem Erwachsenen nicht vor der Vorstellung graust, später einmal wie die Eltern im Hamsterrad der Leistungsgesellschaft zu strampeln, dem ist nicht zu helfen. Joseph von Eichendorff hat uns diese Novelle geschenkt und ihr Taugenichts begegnet uns wieder in Hermann Hesse’s „Knulp“, in Robert Walser’s „Jakob von Gunten“ oder in Jack Kerouac’s „Sal Paradise“ in „On the Road“ – alles Figuren, die einen antibürgerlichen Lebensstil verfolgen und sich vor allem den modernen Anpassungszwängen verweigern. Ein zeitgenössischer Taugenichts hätte sicherlich seinen Impftermin verschlafen, der Dauernarzissmus auf Instagram wäre im zu anstrengend und ein saftiges Brathähnchen würde er einem Tofuschnitzel vorziehen.

Der Roman fängt damit an, dass der Vater zum Sohn sagt: „Du Taugenichts! Da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Türe, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.“ Der Taugenichts nimmt seine Geige und zieht fröhlich in die Welt hinaus, hört den Lerchen und Goldammern zu, flirtet mit jungen Mädchen und vornehmen Damen und lacht die Spießer aus, die ihm predigen, er solle nur fein arbeitsam und nüchtern sein, nicht herumvagabundieren und keine brotlosen Künste oder unnützes Zeug treiben.

Der Taugenichts ist ein Tachinierer, er steht spät auf, er isst und trinkt gern, er sinniert und faulenzt, wenn er Lust dazu hat, er liebt die Natur, die Musik und die Künste. Er reißt sich nicht um Arbeit, er lässt sich nicht herumschubsen, er feiert gern, aber ohne andere dabei auszunutzen. Er spielt seine Geige und lebt von Gelegenheitsjobs, wie dem Gärtnern, das ihn nahe an die Natur und an die Menschen bringt. Der Taugenichts hat einen anderen Begriff von Faulheit als das Bürgertum, denn er fürchtet die Trägheit der Seele, er fürchtet, dass er vor lauter Geschäftigkeit und Arbeit die Schönheit der Welt übersieht, das Mitgefühl verlernt, die Momente des Zusammenseins mit Kindern, Kumpanen und Marktfrauen versäumt. Die Hochbeschäftigten sind die seelisch Faulen, sein Nicht-Taugen zum fleißigen Arbeiten ist nicht Passivität, sondern Offenheit für die Welt und für Gott. Eichendorff ist gläubiger Katholik und sein Taugenichts ist ein katholischer Tachinierer. Kein Wunder, dass es den Taugenichts nach Italien zieht, ins Land der Zitronenbäume, der Sonne und des Meeres und der leichten Lebensart. „Aus dem Leben eines Taugenichts“ dürfte Generationen mit dem Lockruf des Südens inspiriert haben.

So würde Joseph von Eichendorff heute vielleicht aussehen – generiert von einer KI

Katholisch ist das Gottvertrauen mit dem er sich auf Wanderschaft begibt. Das Geld des Vaters ist ihm schon bei der ersten Station aus der Tasche gefallen. Aber was hat ein Mensch zu fürchten, der weiß: „Sehet die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater nährt sie doch.“ Auch die Natur ist in Eichendorffs Gedichten oftmals ein heiliger Ort, wo der Dichter Trost und Frieden findet. Der blaue Himmel, das grüne Gras und die blühenden Blumen werden als göttliche Schöpfung wahrgenommen, die uns Ruhe und spirituelle Erfüllung schenken:

Die Bäume rauschten, die Quellen sprangen,

Es war alles so fromm und süß,

Daß alle Vögel sangen,

Daß ich niederfiel auf’s Knie.

Der Taugenichts hat einen anderen Begriff von Faulheit als das Bürgertum, denn er fürchtet die Trägheit der Seele, er fürchtet, dass er vor lauter Geschäftigkeit und Arbeit die Schönheit der Welt übersieht und das Mitgefühl verlernt.

Da deutet sich schon an, dass diese Natur – als ein gesegneter Ort, den uns ein gütiger Gott zugewiesen hat – bereits bedroht ist durch die Frühindustrialisierung mit ihrer Ausbeutung. 1826, als die Novelle erschien, erreichte der Manchesterkapitalismus seinen ersten Höhepunkt. Hungerlöhne und extrem lange Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden täglich waren weit verbreitet. Auch wenn Kinderarbeit auf jedem Bauernhof präsent war, unterschied sie sich doch deutlich von den auszehrenden und monotonen Bedingungen in Bergwerken oder Spinnereien. Eichendorff romantisiert das Landleben nicht, er spürt aber, dass diese Welt untergeht und schildert sie in ihrer Würde und Eigenart. Man hat ihm vorgeworfen, dass in seinen Romanen die Wälder unentwegt rauschen, die Nachtigallen zu oft schallen und die Flüsse zu laut plätschern. Sei‘s drum. Immerhin hat Eichendorff damit Weltliteratur geschaffen und in der deutschen Lyrik bis hin zum Liederbuch einen spezifisch deutschen Ton geprägt. Nicht wenig für einen Taugenichts. Eichendorffs Poesie spiegelt die Erfahrung wider, dass die beginnende Industrialisierung den Menschen von der Natur endgültig trennt und dass sich diese selbstgeschaffene, künstliche Welt zunehmend einsam, kalt und gottverlassen anfühlt. Eichendorff ist auch kein reiner Ästhet. Er versucht nicht die Natur ästhetisch wiederzugewinnen, weil sie in der Realität verloren geht. Er beseelt die Natur, damit wir sie spüren und lieben und uns gegen ihre Vernutzung und ihr Verschwinden zur Wehr setzen. Sollen wir uns den Taugenichts als jemanden vorstellen, der seine Kopfhörer aufsetzt, Folk und Bon Iver hört, während im Hintergrund die Ampelregierung „Grimms Märchenwald“ in Hessen für einen Windpark abholzt oder die Rügener Kalkstein-Küste für ein Flüssiggasterminal opfert?

241 Meter hohe Windräder verschandeln wie in dieser Visualisierung das Dornröschen-Schloss Sababurg. Das von Dornenhecken umgebene Schloss inspirierte die Brüder Grimm zu dem Märchen

Es gab damals natürlich viele Romantiker, die vor der kalten Nutzenlogik, vor der Beschleunigung aller Lebensverhältnisse, vor der alles durchdringenden Orientierung am Geld warnten. Eine frühe Anklage gegen den bürgerlichen Wertekanon aus Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit schrieb beispielsweise Friedrich Schlegel mit seinem Roman Lucinde. Der protestantische Pfarrersohn Schlegel wußte, hundert Jahre vor Max Weber, genau, dass unermüdlicher Fleiß, Leistungsüberbietung und Gewinnmaximierung – „unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens“ (Weber) – urprotestantische Tugenden sind. Er nennt sie „leeres unruhiges Treiben, nordische Unart“. Während der Katholizismus Faulheit noch als leidliches Laster betrachtete, das möglicherweise die Familie gefährdet, dämonisierte sie besonders der Calvinismus als Charakterschwäche. Mit unverblümter Brutalität riefen die protestantischen Pfarrer nach der Obrigkeit, sie solle dem Volk die Faulheit kollektiv austreiben. Die Fleißpredigt ging Hand in Hand mit strengen Disziplinierungen. Schon lange vor der Industrialisierung etablierten protestantische Länder Arbeits- und Zuchthäuser, in denen nicht nur Kriminelle, sondern auch Landstreicher, Bettler, Schuldner und generell jede Form von Außenseitern interniert und umerzogen wurden. Sie sollten das Zuchthaus als pünktliche, sparsame, obrigkeitshörige und vor allem fleißige Bürger verlassen, die sich gern ausbeuten ließen. Auch Armee, Schule und Manufaktur dienten dieser Disziplinierung.

Sollen wir uns den Taugenichts als jemanden vorstellen, der seine Kopfhörer aufsetzt, Folk und Bon Iver hört, während im Hintergrund die Ampelregierung „Grimms Märchenwald“ in Hessen für einen Windpark abholzt?

Eichendorffs Taugenichts ist so ein Landstreicher. Er wandert durch die Welt ohne „methodische Lebensführung“ oder besondere Zielstrebigkeit. Während Schlegels protestantisches Pendant „Julius“ auch als künstlerischer Außenseiter zielstrebig vorgeht und seine Karriere im Auge hat, ist der Taugenichts ambitionslos, lässt die Dinge lieber geschehen und erinnert darin an die Märchenfigur Hans im Glück, der ebenfalls naiv, vielleicht sogar einfältig erscheint. Er lebt im Einklang mit seinem Naturell. Gibt es das eine nicht, so stellt sich das andere ein. Ein einfaches Leben ohne Ängste, ohne übertriebene Hoffnungen, ganz im Hier und Jetzt.

Die Romantik präsentierte dem kühlen, gut organisierten, fleißigen und obrigkeitshörigen Deutschen das romantische, schwärmerische und gefühlvolle deutsche Gegenbild. Beides ist deutsch, mit all seinen positiven Facetten und Abgründen. Eichendorff selbst war übrigens frei vom dumpfen Deutschnationalismus und Antisemitismus seiner romantischen Kollegen, wie etwa von Arnim. Sein Ego erforderte weder Selbstüberhöhung noch Hass.

Eichendorff wollte in die Seele blicken. Die Erfolgsreligion der Calvinisten, die wir über die amerikanische Leitkultur nun vor allem in Form von ständiger Selbstoptimierung und Performance-Nachweisen nachbeten, war ihm ein Graus. Der Taugenichts will leben und fühlen, er ist nicht faul im Sinne von „mit vollem Bauch im Bett liegen“, er arbeitet, er musiziert und zeigt Interesse an der Welt, aber er ruht in sich, er schätzt die Muße. Er fühlt nicht den Drang, sich täglich zu verbessern, um anderen etwas zu beweisen. Vielmehr trägt er die Gewissheit seiner Erwähltheit in sich, die der puritanische Amerikaner unablässig durch Erfolg und Geld „beweisen“ muss. Klar, der Taugenichts ist auch eine Reaktion auf die Disziplinierungspraktiken des calvinistischen Kapitalismus, wie sie Max Weber beschrieb. Durch diesen Druck wandelt sich der epikureische Lebensstil des „guten Lebens“ zu einer antibürgerlichen, anarchistischen Haltung. Faulheit wird so zu einer Form des Widerstands gegen die kapitalistische Disziplinierung und entwickelt sich zur Zivilisationskritik. Eine gesunde, dem Menschen zuträgliche Lebensphilosophie wird solcherart ins Abseits gedrängt. Eichendorff versucht durch eine gewisse Unbestimmtheit dem entgegenzuwirken. Rüdiger Safranski beschreibt Eichendorff treffend als „keinen Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs, nicht des erfüllten Augenblicks, sondern der Sehnsucht, nicht des Ankommens, sondern der Abfahrt“.

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