Gutes Essen, gutes Leben

Unsere Nahrung ist von fadem, überzuckertem und übersalztem Industriefrass geprägt. Die Gastrosophie propagiert dagegen eine sinnliche und maßvolle Genusskultur: Slow Food anstelle von Fast Food.

Zum guten Leben gehört gutes Essen. Diese originelle Meinung vertrat der antike Philosoph Epikur. „Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zu ihr“, schrieb er. Das ist ein wunderbar bejahender Zugang zum Leben, zur Natur und vor allem auch zu den eigenen Gefühlen und zum eigenen Körper. Epikur kann herzhaft in ein Schnitzel beißen und sich den Rotwein schmecken lassen, ganz ohne Schuldgefühle und Sorge um sein jenseitiges Schicksal. Denn bevor man sich um Gott und die Welt kümmert, sollte man für sich selbst sorgen. Dann bleiben die Mitmenschen von Moralpredigten verschont und der einzige, der die eigenen Grundsätze einhalten muss, ist man selbst.

Im Gegensatz zu den Epikureern verachtet das Christentum den Körper und alles Sinnliche. Das wirkt bis heute nach, und die epikureische Leitidee, dass der Sinn des guten Lebens das gute Leben selbst ist, hat es immer noch schwer. Die christliche Weltverneinung hat inzwischen säkular-religiöse Formen angenommen: Burger aus synthetischem Fleisch etwa, oder die rigiden Speisegesetze radikaler Veganer, die die Welt retten sollen, aber den Tod aller Nutztiere bedeuten würden. Tiere sind das Leben, auch wenn wir sie töten, um ihr Fleisch zu essen, diese Verbindung ist die Basis unserer Kultur. Die weltverneinenden Mönche kennen keine Genüsse, keine Frauen, keine Kinder – auch wenn die Rieslinge des Klosters Eberbach davon zeugen, dass die Kasteiungsgelübde gelegentlich ignoriert wurden. Die Epikureer sind somit der größte Gegenpol zu den verklemmten Asketen. Epikurs Plädoyer für das unbefangene Genießen macht ihn bis heute zum wohl meist denunzierten Philosophen der Geschichte. Und das allein deshalb, weil er gern aß und trank und auch den sexuellen Freuden zugetan war. Nietzsche nannte die Asketen „Verneiner des Lebens“. Sie dominieren die westliche Lebensart. Die „innerweltliche Askese“ beobachtete Max Weber vor allem bei den Managern, die nicht nur entsagungsbereit im Hamsterrad laufen, sondern heute nur noch Mineralwasser trinken, Salate und Körner essen und Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen, um immer schön fit für den Job zu sein.

Wir sollen durch unser Essen fit und schlank werden oder die Welt retten. Dabei sollte doch Genuß, Geschmack und gemeinschaftliche Esskultur im Vordergrund stehen.

Dass unsere Lebensmittelkultur von fadem, übersüßtem und übersalzenem Industriefraß bestimmt wird, liegt auch daran, dass wir keine Genusskultur (mehr) sind. Die amerikanische Fast Food Unkultur hat sich durchgesetzt, denn sie passt am besten zur industriellen Effizienz (Tibor Scitovsky). Die hat für einen Schinken, der ein gutes Jahr lang abhängen sollte, kein Verständnis. Das muss schneller gehen. Ein Hähnchen durfte früher sechs Monate leben, jetzt sind es infolge der Expressmast nur noch sechs Wochen bis zur Schlachtung. Genuss gilt als elitär und ist es von den Preisen auch zumeist. Wären wir den Weg Epikurs gegangen und nicht den puritanisch-amerikanischen, sähe unsere Esskultur anders aus: sinnlicher, geschmackvoller, besser. Die Amerikaner schaffen es, stark übergewichtig zu sein und dabei kein einziges Mal wirklich gut gegessen zu haben.

„Ich wüßte nicht, welches Gut überhaupt noch einen Wert für mich haben könnte, wenn ich mir die Lust am Essen und Trinken wegdenke, die Liebesfreuden verabschiede und auf den Genuss von Musik und schöner Kunst verzichte“

Epikur.

„Ich wüßte nicht, welches Gut überhaupt noch einen Wert für mich haben könnte, wenn ich mir die Lust am Essen und Trinken wegdenke, die Liebesfreuden verabschiede und auf den Genuss von Musik und schöner Kunst verzichte“, sagt Epikur. Damit ist er auch ein Begründer der Gastrosophie. Alle Kulturen der Welt (etwa Indien, Ägypten, Japan) machten sich früh Gedanken, wie ein gutes Leben von der Ernährung beeinflusst wird. Die Griechen entwickelten die „Diätetik“ als Lehre von der gesunden Lebensführung. Sie ist heute zu einer Ernährungslehre geworden, die Diäten gegen bestimmte Krankheiten entwickelt, etwa mit kohlenhydratarmen (Diabetes) oder glutenfreien (Zöliakie) Speisen. Die Gastrosophie ist aber mehr als Ernährungsberatung. Ihr geht es um die „Freuden der Tafel“, ganz im umfassenden Sinn Epikurs. Eugen Baron von Vaerst, der die Freuden der Tafel im 19. Jahrhundert systematisierte, unterscheidet zwischen dem Gourmand, dem Vielfraß, der sich den Bauch wahllos vollschlägt, dem Gourmet, der immer nur das Feinste und Teuerste haben will, und dem Gastrosphen, der beim Essen das Beste wählt, allerdings gesundheitliche und philosophische Aspekte mitberücksichtigt.

Eugen Baron von Vaerst begründet mit dem Buch „Die Freuden der Tafel“ die Gastrosophie.

Damit ist klar, dass Gastrosphen und Epikureer keine Komasäufer und Fast Food Enthusiasten sind, wie ihre Verächter gern behaupten. Sie sind keine Hedonisten, im abwertenden Sinn dieses Begriffes, (gr. Hedonia: Spaß) also Menschen, die sich mit Aperol Spritz begrüßen und von einem Gelage zum nächsten taumeln, weshalb sie auch nicht für die Exzesse der heutigen Konsumkultur (Lebensmitteindustrie, Schnellimbissketten) verantwortlich gemacht werden können, erst recht nicht als intellektuelle Befürworter dieses Überkonsums. Sie wollen nicht irgendeinen Industriefraß zu sich nehmen, sie wollen genußvoll essen und trinken.

Dazu brauchen sie keine Gault Millau Restaurants. Das schmackhafte Essen kochen sie sich mit guten Zutaten gern auch selbst. Dagegen spiegelt sich der elitäre Charakter des Gourmets in Oscar Wildes Satz „Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer mit dem Besten zufrieden“. Ihm dient der verfeinerte Geschmack zur sozialen Distinktion – ähnlich wie bei Moralisten, die beispielsweise religiöse oder vegane Ernährungsvorschriften propagieren, um jene sozial abzuwerten, die sich nicht daran halten. Die Gastrosophie hingegen verfolgt einen genussfreundlichen, besonnenen und lebbaren Ansatz zur Ernährung und versucht, extreme Positionen zu vermeiden. Das schließt mit ein, dass ein Gastrosoph gelegentlich fastet, weil das den Körper verjüngt, oder dass er überdurchschnittlich viel Geld fürs Essen ausgibt, da ihm gute Qualität wichtig ist und er Wert auf köstliche Mahlzeiten legt.

Es ist klar, dass der Tachinierer auch Gastrosoph ist: Die kulinarische Spitzenküche ist ihm gewöhnlich zu elitär und die vegane Kasteiung gewöhnlich zu unsinnlich, aber am unsympathischsten ist ihm Fast Food. Ein in Altfett gebrutzelter Hamburger in einem Pappbrötchen, satt getränkt mit BBQ-Sauce, stellt eine Provokation für sein Weltbild dar. Diese Speise ist zwar schnell zubereitet und wird meist eilig verschlungen. Aber gerade diese Hast ist das Problem. Fürs Essen nimmt sich der Tachinierer Zeit, für wahres Genießen nimmt sich der Feinschmecker erst recht viel Zeit, und auch beim Kochen sollte man möglichst wenig Zeitdruck haben. Somit ist Entschleunigung beim Essen und in der Gastronomie ein wesentlicher Schritt bei der Agrarwende. Viele Menschen stimmen der Idee von Slow Food zu, kommen aber aus den Zwängen der hektischen Arbeitswelt, der Freizeitoptimierung und der schwierigen Ernährungslage in punkto Esskultur nicht richtig dazu, das auch umzusetzen. Der Tachinierer kämpft für diese Zeit, indem er sie sich einfach nimmt und weniger im Smartphone daddelt. Die Slow Food Bewegung ist ein Lichtblick. Slow Food basiert auf der Idee, dass Essen nicht nur Nahrung ist, sondern auch eine Quelle des Genusses, des sozialen Miteinanders und der kulturellen Identität. Slow Food setzt sich für hochwertige Lebensmittel ein, die durch traditionelle Herstellungs- und Anbaumethoden erzeugt werden. Lieber nur zweimal Fleisch in der Woche, das aber hochwertig, als das Billigfleisch aus dem Discounter. Slow Food verdanken wir die Wiederbesinnung auf regionale Lebensmittel, weil das unseren traditionellen Geschmack trifft, nachhaltig ist und die kulturelle Vielfalt der regionalen Küchen stärkt. Beliebt sind traditionelle Kochtechniken, Rezepte und landwirtschaftliche Praktiken, weil sich nur so die kulturelle Vielfalt in der Ernährung gegen die Agrar- und Lebensmittelkonzerne erhalten lässt.

Slow Food basiert auf der Idee, dass Essen nicht nur Nahrung ist, sondern auch eine Quelle des Genusses, des sozialen Miteinanders und der kulturellen Identität.

Fragt man die Menschen nach ihren Vorstellungen von gesunder und guter Ernährung, wird die Mehrheit die richtige Antwort geben: Obst, Gemüse, Vollkornprodukte, Brathähnchen oder Fisch in Maßen sind besser als Muffins, Kekse, Fertiggerichte, Fast Food und Softdrinks. Omas Kirschkuchen schlägt noch immer den von Unilever Food Solution. Warum leben die Menschen dann aber nicht so? Gerade bei der Ernährung müssen sie sich gegen die Mainstream-Kultur mit all ihrer Propaganda, ihren verlockenden Angeboten und Anreizen wehren und zugleich unterliegen sie den Zwängen der Lebensmittelindustrie, die Billigarbeiter aus Osteuropa ausbeutet, Massentierhaltung betreibt, minderwertiges Sojafutter verwendet und Bauern drangsaliert, und die EU-Vorschriften industriefreundlich hinbiegt – und aus all diesen Gründen so billig sein kann. Das ist ihre eigentliche Macht.

Nur wenige Agrar- und Lebensmittelkonzerne bestimmen heute, was auf den Tisch kommt. Die gastrosophische Freiheit, wie sie die Slow Food Bewegung vertritt, ist von ihr bedroht. Ein sinnliches und genussreiches Leben muss heute hart gegen sie erkämpft werden. In Stefanie Sargnagels Bericht über ihren „Ausflug nach Iowa“ in den ländlichen Mittelwesten der USA, begegnet sie vorwiegend stark übergewichtigen Einwohnern, die keine Möglichkeit mehr haben, sich gesund und genussvoll zu ernähren, weil es weder Restaurants noch Bauernmärkte gibt – nur Supermärkte mit Tiefkühlkost. Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen. Wir sind aber auf dem besten Weg dorthin. Die EU-Agrarordnung ist so zugeschnitten, dass kleine und mittlere Bauernbetriebe sterben. Das Land kaufen Agrarkonzerne, die dann die Verwerter unter Margendruck setzen. Konzentrationsprozesse gibt es auch bei den Lebensmittelkonzernen und Supermärkten. Die Konsumentensouveränität ist so stark eingeschränkt. Iowa ist überall.

Gastrosophie ist also heute wichtiger denn je. Zumal die industrialisierte Landwirtschaft an ihr Ende gekommen ist und der Gastrosoph gezwungen ist mitzuhelfen, die bäuerliche Kultur und Genußkultur neu zu beleben. Das beginnt bei jedem selbst: „Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens“, sagt Epikur. Ein gutes Leben ist ein Leben, in dem einem das Essen schmeckt.

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